Die Wahlwiederholung in Berlin und das Dilemma der SPD

#Ländersache Berlin

20.01.2023
Andreas Thomsen
Berlin,Deutschland,Wahlplakat der Partei SPD Franziska Giffey zur Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin und zu den Bezirksverordnetenversammlungen am 12.02.2023

Die Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen, die im September 2021 stattfanden, werden aufgrund von Unregelmäßigkeiten in mehreren Stimmbezirken am 12. Februar wiederholt. Die Wahl im September 2021 hatte auf Landesebene eine klare Mehrheit für die Fortsetzung der seit 2016 regierenden rot-grün-roten Koalition ergeben. Dennoch zögerte die SPD zunächst, die von den Wähler*innen bestätigte Koalition fortzusetzen. Ihre Spitzenkandidatin, Franziska Giffey, hatte ursprünglich eine Koalition mit den Grünen und der FDP bevorzugt. Der beabsichtigte Koalitionswechsel scheiterte jedoch am Unwillen der Grünen und am Widerstand in der eigenen Partei, so dass schließlich doch eine Neuauflage des rot-grün-roten Senats zustande kam.

Zeitgleich mit der Wahl 2021 wurde über den Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ abgestimmt. Dabei stimmten 59,1 Prozent für die Initiative, die eine Enteignung von Wohnungsbaukonzernen vorsieht, die mehr als 3000 Wohnungen in der Stadt besitzen. Die große Mehrheit der Berliner*innen erteilte dem neuen Senat auf diese Weise einen klaren Handlungsauftrag. Dass die SPD sich im Vorfeld der Abstimmung gegen den Volksentscheid ausgesprochen hatte und Franziska Giffey keinen Hehl aus ihrer Abneigung machte, die Enteignungen in ihrer Regierungszeit umzusetzen, belastete die neue Landesregierung von Anfang an. Während die SPD statt auf die Umsetzung des Volksentscheids auf verstärkten Wohnungsneubau setzte, verhielten sich die Grünen mit Blick auf mögliche Enteignungen unentschlossen. Einzig DIE LINKE stellte sich hinter den Volksentscheid, sah sich aber in der Folge mit der Frage konfrontiert, wie dessen Forderungen denn gegen die massiven Widerstände aus Politik und Immobilienlobby verwirklicht werden könnten.

Am 12. Februar findet bekanntlich keine Neu-, sondern um eine Wiederholungswahl statt. Nun kann aber niemand zweimal in denselben Fluss springen, sprich: Seit der Wahl vom September 2021 hat sich politisch viel verändert. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und dessen Folgen haben die Inflation weiter angeheizt, Energie- und Lebensmittelpreise sind zwischenzeitlich enorm angestiegen. Dadurch ist die Krise für die Menschen sehr greifbar und bedroht viele von ihnen, trotz der von der Bundesregierung vereinbarten Entlastungspakete, in ihrer Existenz.

Die kurze Diskussion über die Silvesternacht

Überlagert wurde die soziale Zuspitzung Anfang Januar indes durch eine Diskussion über Vorkommnisse in der Silvesternacht, in der die CDU – im Bund wie im Land Berlin – bestrebt war, die Themen „Integration“ und „Innere Sicherheit“ in den Wahlkampf zu injizieren. Während der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz sich in Talkshows wiederholt rassistischer Stereotype („kleine Paschas“) bediente, wollte die Landespartei offenbar nicht zurückstehen. Als ihre Fraktion im Abgeordnetenhaus dann aber nach den Vornamen der in der Silvesternacht festgenommenen Tatverdächtigen mit deutschem Pass fragte, wurde der rassistische Gehalt ihrer Intervention erkennbar – und die Rechtsentwicklung der Union seit dem Abgang von Angela Merkel einmal mehr für die breite Öffentlichkeit erfahrbar.

Sollte die CDU geglaubt haben, auf diese Weise Wähler*innen von der AfD zurückgewinnen zu können, zeigen die aktuellen Umfragen, dass sie sich geirrt hat. Das nimmt nicht wunder, denn rechtspopulistische Parteien profitieren in aller Regel davon, wenn sich etablierte Parteien diskursiv auf „ihr“ Terrain begeben. Allerdings hat sich die Diskussion über die Silvesternacht beruhigt und versachlicht, nachdem bekannt wurde, dass die Annahme, es handle sich bei den Krawallen in erster Linie um ein „Integrationsproblem“, von den Fakten widerlegt wurde.

Nachdem der Rauch, den die Empörungswilligen erzeugt hatten, verzogen war, zeigte sich, dass sich die zentralen Polarisierungsfragen in der Stadt seit der letzten Wahl nur wenig geändert haben. Es gibt kaum neue Fragestellungen und, weil es sich ja um eine Wahlwiederholung handelt, auch keine neuen Personalangebote. Hinzu kommt: Der neue Senat war nur etwas mehr als ein Jahr im Amt, sodass der Zeitraum für politische Veränderungen sehr kurz ausfällt.

Sozialpolitische Erfolge und Widersprüche des rot-grün-roten Senats

Nach der Wahl 2021 wollte Franziska Giffey den dritten Koalitionspartner, DIE LINKE loswerden und durch die FDP ersetzen. In diesem Vorhaben wurde sie durch die Grünen und auch durch einigen Widerstand in der eigenen Partei gestoppt. Derzeit sind in Berlin zwei zentrale politische Polarisierungsachsen zu erkennen: Die der sozial-ökologischen Transformation, die in der Stadt sehr stark und sehr symbolisch an der Verkehrspolitik erkennbar wird, ist die erste dieser Achsen. Hier stehen sich Grüne und SPD in einem Spannungsverhältnis gegenüber. Ein bürgerlicher Koalitionspartner wie die FDP wäre aus der Perspektive der Regierenden Bürgermeisterin da hilfreich. Die zweite Polarisierungsachse ist die der Vergesellschaftung und des gesellschaftlichen Eigentums. Zuletzt und am stärksten wurde diese Achse am Volksentscheid „Deutsche Wohnen...“ sichtbar. Hier ist aus Sicht der Regierenden Bürgermeisterin DIE LINKE die Antagonistin, die Grünen neigen beim Thema zu vorsichtiger Ambivalenez. Aber DIE LINKE als Koalitionspartner durch eine marktwirtschafts-radikale Partei zu ersetzen, wäre sicherlich eine Variante gewesen, um das Problem vorerst aus der Welt zu schaffen. Diese Konfliktlage war es dann, die Franziska Giffey Ende 2021 zwang, erneut eine rot-grün-rote Regierung zu bilden. Im Gegenzug musste DIE LINKE das Bau- und Stadtentwicklungsressort verlieren, es wurde mit dem ehemaligen Innensenator Geisel besetzt.

Was dann folgte, war sicherlich eine Überraschung. Der Senat hat in seiner kurzen Amtszeit tatsächlich einige sichtbare Erfolge vorzuweisen. In 2022 kamen mehr Flüchtlinge nach Berlin als in den Jahren 2015/2016, ihre Unterbringung und Versorgung war eine enorme Herausforderung, die den Berlinerinnen und Berlinern und auch der Senatsverwaltung nahezu geräuschlos und souverän gelang. Housing-first-Programme für Obdachlose wurde konsequent angegangen und auch die weiteren Herausforderungen der Unterbringung von Obdachlosen. Der Senat verhängte angesichts der Energiekrise ein Mietenmoratorium für landeseigene Wohnungen und große Wohnungsbaugesellschaften schlossen sich der Aufforderung des Senats an. Das 29-Euro-Ticket kam, wurde verlängert und erhielt auch noch die 9-Euro-Sozial-Variante. Und die extra eingesetzte Expert*innenkommission zur Frage der Umsetzung des Volksentscheids „Deutsche Wohnen...“ stellte in ihrem Zwischenbericht Ende 2021 fest, das Vorhaben sei grundsätzlich umsetzbar, man wolle noch bis Sommer 2023 tagen, um offene Fragen zu besprechen, der neue Senat könne dann wohl zur Tat schreiten.

Wer wird Berlin regieren?

In Berlin, wo in den erwartbaren Ergebnissen einige Parteien sehr nah beieinanderliegen, können auch kleine Veränderungen im Wahlergebnis größere Auswirkungen haben. Zumindest theoretisch. Gewinnt etwa die CDU gegenüber 2021 1,5 Prozentpunkte hinzu, und verliert die SPD 1,5 Prozentpunkte, wäre die CDU plötzlich stärkste Partei. Es sei denn, die Grünen würden um einen Prozentpunkt stärker als 2021. Dann wären sie die stärkste Partei. Abweichungen dieser Größenordnung kann die Demoskopie natürlich nicht seriös erahnen, und so darf spekuliert werden, welche dieser drei Parteien am 12. Februar die Nase vorne hat. Umso interessanter ist die dagegen die Frage, was nach der Wahl geschehen könnte.

Da die Umfragen derzeit nahelegen, dass es nur geringfügige Änderungen im Wahlergebnis geben dürfte, ist die eigentlich spannende Frage, welche Parteien nach der Wahl den neuen Senat bilden werden und welche Partei diesen Senat führen wird.

Dabei hängt die Frage, wer den oder die Regierende*n Bürgermeister*in stellen wird, nur indirekt davon ab, welche Partei das beste Wahlergebnis erzielt. Das zeigt sich insbesondere an der CDU – sie hat zwar durchaus Chancen, stärkste Partei zu werden, kann daraus aber keinen Regierungsanspruch ableiten, solange der amtierende Senat aus SPD, Grünen und LINKE seine Mehrheit verteidigen kann. Die Bereitschaft der SPD, als Juniorpartner in eine Koalition mit der CDU einzutreten, dürfte sich in Grenzen halten. Nach Lage der Dinge wäre eine Koalition unter Führung der Union ohnehin nur unter Mitwirkung zwei weiterer Parteien möglich. Da die Berliner Grünen und DIE LINKE eine Koalition mit der CDU ausgeschlossen haben, liegt Kai Wegners Machtoption also einzig in einer Koalition mit SPD und FDP.

Die Grünen würden nach einem Wahlsieg sicherlich die Fortsetzung des amtierenden Senats unter Führung von Bettina Jarasch anstreben.

Vergleichsweise offen bleibt die Regierungsbildung mit Blick auf die SPD. Sollte sie stärkste Partei – oder auch zweitstärkste Partei hinter der CDU – werden, kann sie „Rot-grün-rot“ fortsetzen oder aber erneut versuchen, DIE LINKE durch die FDP zu ersetzen. Letzteres hätte für sie den Vorteil, dass im Land Berlin dann dieselben Parteien regierten, wie im Bund; allerdings ist dieser Versuch des Umsteuerns bereits 2021 gescheitert. Sollte die SPD jedoch zweitstärkste Partei hinter den Grünen (aber vor der CDU) werden, könnte Giffey nur in einer Koalition mit CDU und FDP Regierende Bürgermeisterin bleiben. Wer Giffey kennt, weiß, dass das ein starkes Argument für eine solche Koalition sein dürfte.

Aus Sicht der Partei DIE LINKE stellt sich die Frage der Regierungsoption einfacher dar, da eine solche nach Lage der Dinge nur im Zusammengehen mit SPD und Grünen besteht – unabhängig davon, wer dann Regierende Bürgermeisterin wird. Fest steht allerdings, dass die Frage, ob der Volksentscheid „Deutsche Wohnen...“ und die damit verbundene Umorientierung weg vom Markt und hin zu gesellschaftlichem Eigentum eine reale Chance auf Umsetzung hat, vor allem von ihrem Wahlergebnis abhängt. Mit der linken Beteiligung an der Regierung steht oder fällt der Anspruch – und damit auch die Chance –, den Volksentscheid doch noch umzusetzen.

Giffey im Dilemma

Die SPD und ihre Regierende Bürgermeisterin befinden sich in einer widersprüchlichen Lage: Denn ihre Politik ist auf Landesebene durchaus erfolgreich – dies aber vor allem mit der (Sozial-)Politik, die wesentlich von den linken Senator*innen – Klaus Lederer, Lena Kreck und Katja Kipping – mitgestaltet wird. Diese Erfolge wären mit Giffeys einstigem Wunschpartner FDP so nicht möglich gewesen. Deshalb ist es gerade die rot-grün-rote Konstellation, die sich voraussichtlich positiv auf das Wahlergebnis der Senatsparteien auswirken dürfte.

Auch nach der Wahl wird es voraussichtlich eine Mehrheit für diese Koalition geben. Dass es aber auch wirklich zu einer Fortsetzung des Regierungsbündnisses kommen wird, ist keineswegs ausgemacht. Fest steht deshalb zweierlei: Wird DIE LINKE im Senat durch die FDP (oder auch, was unwahrscheinlich ist, durch die CDU) ersetzt, ist eine Umsetzung des Volksentscheids vom Tisch, und auch die genannten sozialpolitischen Erfolge dürften so nicht zu halten sein. Und zweitens hängt die künftige Regierungsbildung deshalb entscheidend nicht nur davon ab, wer stärkste Partei wird, sondern auch davon, wie viele Stimmen der linke, sozialpolitische Motor des Senats für sich verbuchen kann.

Andreas Thomsen ist ehemaliger Büroleiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brüssel und stellvertretender Bereichsleiter der Bundesweiten Arbeit der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin.