Frankreich inmitten einer sozialen und politischen Kraftprobe

11.04.2023
William Bouchardon
Protest in Paris anlässlich des elften landesweiten Aktionstages gegen das Rentengesetz

Seit zwei Monaten wird Frankreich von historischen Protesten und heftigen parlamentarischen Debatten erschüttert. Der Gegenstand dieser Wut? Eine unnötige und brutale Rentenreform, an der die Regierung aus politischen Gründen festhält. Die spezifische Verknüpfung der politischen und sozialen Kräfte im Kampf gegen die Reform verdient es, analysiert zu werden, um die Herausforderungen eines entscheidenden politischen Augenblicks in Frankreich und über dessen Grenzen hinaus zu verstehen.

Die Rentenreform sollte das Wahrzeichen der zweiten Amtszeit Emmanuel Macrons werden. Sein erster Versuch im Jahr 2020 scheiterte nach zwei Monaten heftigen Streiks, blockierten Debatten in der Nationalversammlung und dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Ungeachtet dessen, war der französische Präsident fest entschlossen, die Reform in einem zweiten Anlauf durchzuziehen. Die von der Europäischen Kommission dringend geforderte Reform ist für Macron von großer politischer Bedeutung, da er dadurch sein Image als neoliberaler Reformer gegenüber dem «bürgerlichen Block», der ihn im vergangenen Jahr wiedergewählt hat, bekräftigen möchte. Emmanuel Macron, der in der Stichwahl gegen Marine Le Pen erwartungsgemäß wiedergewählt wurde, fehlt seit Juni eine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung und er verfügt über einen begrenzten politischen Rückhalt. Zudem weiß der Staatschef, der nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren kann, dass der Appetit auf seine Nachfolge zunehmen wird, je näher die nächste Präsidentenwahl rückt. Politisch sieht Macron eine gewisse Dringlichkeit, die Reform voranzutreiben, je näher seine fünfjährige Amtszeit mit ihren brüchigen Fundamenten seinem Ende entgegenrückt.

Wie Macron sich Frankreich zum Feind gemacht hat

Vor diesem Hintergrund erschien das Thema der Reformierung des Rentensystems aus zwei Gründen als der beste politische Markstein. Zunächst einmal ist die Herausforderung symbolträchtig: Der Ruhestand steht im Mittelpunkt des «Sozialmodells», das den Französ*innen so sehr am Herzen liegt, und alle seine früheren Reformen waren Gegenstand heftiger Kontroversen. Macron wollte seinen «Thatcher-Moment»: In der Kraftprobe gegen die Gewerkschaften und die Linke wollte er als Sieger in die Geschichte eingehen und hoffte, dauerhafte Resignation und Nihilismus bei seinen Gegner*innen auszulösen. Andererseits ist die einzige Möglichkeit für den Staatschef, seinen Wahlblock zu vergrößern und seine Mehrheit in der Nationalversammlung in Form eines Bündnisses zu festigen, den Zusammenschluss mit den Republikanern (LR) zu vollenden. Allerdings fordert die gemäßigte Rechte diese Reform schon lange. Indem er ihren Vorschlag aufgreift, stellt ihnen Macron eine Falle: Entweder stimmen die Republikaner für die Rentenreform ab, akzeptieren somit, dass der starke Mann im Elysée-Palast ihr Programm umsetzt und gehen eine Koalition mit ihm ein, oder sie verlieren jegliche Glaubwürdigkeit.

Ursprünglich schien dieses politische Kalkül geschickt zu sein. Nur: Kein einziges Argument für eine Reform ist stichhaltig. In finanzieller Hinsicht ist das Rentensystem nicht gefährdet, wie das Rentenaufsichtsgremium (Conseil d’Orientation des Retraites) wiederholt betonte. Darüber hinaus lassen die durch die Reform verursachten Mehrkosten in Form von Arbeitslosigkeit und Krankschreibungen älterer Menschen sowie die verschiedenen Zugeständnisse, die während der Debatten im Parlament gemacht wurden, darauf schließen, dass die Reform möglicherweise gar nichts bringt. Außerdem wurden andere Vorschläge zur Erhöhung der Staatseinnahmen (Anhebung der Gehälter, Gehältergleichheit von Mann und Frau, Rücknahme von Beitragsbefreiungen, usw.) nie diskutiert. Die falschen Versprechen der Regierung – insbesondere über die Mindestrente in Höhe von 1200 € oder die sogenannte «Konzertierung» mit den Gewerkschaften – haben die Legitimität dieses Projekts endgültig zerstört. So erkannte die französische Bevölkerung schnell die zwei zusätzlichen Arbeitsjahre als nicht gerechtfertigt an und es kam prompt zu einer massiven Ablehnung: rund 70 Prozent der Französ*innen und 93 Prozent der Berufstätigen sind gegen die Reform.

Welche Strategie verfolgt die Gewerkschaftsbewegung im Kampf um die Renten?

In Anbetracht des Widerstands gegen die Reform haben sich alle Gewerkschaften zusammengeschlossen, um sich dagegen zu wehren. Seit der Rentenreform von 2010 hat es keinen solchen Schulterschluss mehr gegeben. Während der Widerstand der CGT oder der Solidaires, die das politische Kräftemessen gewohnt sind, niemanden überraschte, erstaunte die Gegenwehr der reformorientierten CFDT oder der CFE-CGC. Zwar behält jede Gewerkschaft ihre Eigenständigkeit in Fragen der Altersvorsorge sowie bei der Verwaltung laufender Angelegenheiten, doch ist die Tatsache, dass gemäßigtere Gewerkschaften, vor dem Hintergrund gewerkschaftsübergreifender Interessen mit radikaleren Gewerkschaften kooperieren, auf die völlige Ablehnung der Regierung von Verhandlungen mit Vertreter*innen der Arbeitswelt zurückzuführen. Während die CFDT bei seinem Amtsantritt eher versöhnlich mit Macron umging, scheiterte diese Strategie systematisch, angesichts der Häufung brutaler Gesetze gegen die Arbeitswelt: Arbeitsverordnungen, Reform der Arbeitslosenversicherung usw. Angesichts des Drucks seiner Basis einigte sich Laurent Berger, Führer der CFDT, mit Philippe Martinez, dem Generalsekretär der CGT auf die Bildung eines Bündnisses.

Mehr Straßenprotest als Streik

In Anbetracht des Widerstands gegen die Reform haben sich alle Gewerkschaften zusammengeschlossen, um sich dagegen zu wehren. Seit der Rentenreform von 2010 hat es keinen solchen Schulterschluss mehr gegeben. Während der Widerstand der CGT oder der Solidaires, die das politische Kräftemessen gewohnt sind, niemanden überraschte, erstaunte die Gegenwehr der reformorientierten CFDT oder der CFE-CGC. Zwar behält jede Gewerkschaft ihre Eigenständigkeit in Fragen der Altersvorsorge sowie bei der Verwaltung laufender Angelegenheiten, doch ist die Tatsache, dass gemäßigtere Gewerkschaften, vor dem Hintergrund gewerkschaftsübergreifender Interessen mit radikaleren Gewerkschaften kooperieren, auf die völlige Ablehnung der Regierung von Verhandlungen mit Vertreter*innen der Arbeitswelt zurückzuführen. Während die CFDT bei seinem Amtsantritt eher versöhnlich mit Macron umging, scheiterte diese Strategie systematisch, angesichts der Häufung brutaler Gesetze gegen die Arbeitswelt: Arbeitsverordnungen, Reform der Arbeitslosenversicherung usw. Angesichts des Drucks seiner Basis einigte sich Laurent Berger, Führer der CFDT, mit Philippe Martinez, dem Generalsekretär der CGT auf die Bildung eines Bündnisses.

Getragen von dieser vereinten Gewerkschaftsfront erreichte die Mobilisierung schnell ein gewaltiges Ausmaß. Zunächst organisierten die Gewerkschaften eine wöchentliche Demonstration und forderten Arbeitnehmer*innen zum Streik auf, um sich den Demonstrationszügen anzuschließen. Der Erfolg der Straßenproteste ist unbestreitbar: An den meisten Tagen gingen mehr als eine Million Arbeiternehmer*innen auf die Straße. Am 7.März, stieg diese Zahl sogar auf 3,5 Millionen Menschen – laut CGT ein Rekord der letzten Jahrzehnte. Die Mobilisierung war auch in normalerweise ruhigen Kleinstädten sehr erfolgreich. Im Gegensatz dazu hatte die Entscheidung punktuelle Warnstreiks durchzuführen, um größere Lohneinbußen zu vermeiden, keine größeren Auswirkungen auf die Wirtschaft. Ab dem 7. März hat sich die Lage etwas geändert, da einige Branchen und Gewerkschaften in Folgestreiks getreten sind. Auch wenn die Gewerkschaftsbewegung geschlossen bleibt, spiegelt diese Entwicklung den Wunsch einiger Gewerkschaftler wider, die Proteste zu verschärfen, um nicht das Szenario von 2010 erneut zu erleben, als Massenproteste und wenige Streiks zu ihrem Scheitern bei einer früheren Rentenreform geführt hatten.

Wie vorhersehbar, gelten Folgestreiks vor allem als «Stellvertreterstreik»: Die meisten Französ*innen verlassen sich darauf, dass einige wenige Berufsgruppen sehr aktiv sind, um den Sieg zu erringen. Während einige Streiks unmittelbare Auswirkungen haben, wie im Falle der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF, brauchten andere mehr Zeit, um sichtbare Ergebnisse zu erzielen. Man denke nur an die Müllabfuhr, die in Paris für riesige Müllberge sorgte, oder an die Hafenarbeiter*innen und das Raffineriepersonal. Elektro- und Gasinstallateur*innen deren Sonderregelung durch die Reform bedroht ist, haben Zähler manipuliert, um Privatpersonen, bei denen Strom und Gas abgestellt waren, wieder zu versorgen. Öffentliche Dienstleistungen, Verbände oder Kleinunternehmen wurden auf kostenlose oder ermäßigte Tarife umgestellt. Vor dem Hintergrund der Energiekrise haben diese (illegalen) Sabotageakte, bei einem Großteil der Bevölkerung Sympathie geweckt. Gleichzeitig wurde politischen Befürworter*innen der Rentenreform der Strom abgeschaltet. Andere Formen der Mobilisierung wurden von den Landwirten oder den Gelbwesten übernommen, zum Beispiel die Sperrung von Ringstraßen, die Nichterhebung der Autobahnmaut oder das Eindringen in die Räumlichkeiten multinationaler Konzerne. Obwohl diese Maßnahmen bisher nicht ausgereicht haben, um das Land zum Stillstand zu bringen und die Regierung zum Rückzug zu bewegen, hatten sie dennoch Einfluss auf die parlamentarischen Debatten.

Ein unregierbares Parlament

Ursprünglich sollte das Gesetz ohne größere Schwierigkeiten verabschiedet werden. Die Summe der Stimmen des Präsidentenlagers und der Mehrheit der LR-Abgeordneten sollte ermöglichen, den Text in der Nationalversammlung zu verabschieden. Außerdem wählte die Regierung ein spezielles Gesetzgebungsinstrument, die PLFSSR, welches normalerweise dazu dient, die Konten der Sozialversicherung im Laufe des Jahres anzupassen, wie beispielsweise während der Corona-Krise. Diese Entscheidung ermöglichte es vor allem, die Dauer der Debatten zu begrenzen, um eine parlamentarische Blockade zu vermeiden. Doch für Macron ging das letztlich nach hinten los: Die 13.000 Änderungsanträge von La France Insoumise (LFI) und die 5000 weiteren seiner Verbündeten NUPES (EELV, PS und PCF) verzögerten die Debatten erheblich. Obwohl am Ende viele zurückgezogen wurden, konnte der Gesetztext nicht durchgedrückt werden und über seinen berüchtigten Artikel 7, der das gesetzliche Renteneintrittsalter anheben sollte, wurde letztendlich nicht abgestimmt. Im Senat verfolgte die Linke eine ähnliche Taktik, doch durch die missbräuchliche Anwendung der Geschäftsordnung konnte die Abstimmung im letzten Moment erzwungen werden und die LR-Mehrheit unterstützte das Gesetz.

Die Debatte verlief äußerst angespannt und wurde von Buhrufen, Beschimpfungen und Sitzungsunterbrechungen begleitet. Zahlreiche Mainstream-Medien griffen die Argumente der Regierung auf und warfen La France Insoumise insbesondere vor, die Nationalversammlung ins Chaos zu stürzen. Gewiss, die FI-Abgeordneten traten bei ihrem Versuch, den Zorn der Straße zu widerzuspiegeln und zu verkörpern, besonders heftig auf, vor allem gegen Arbeitsminister Olivier Dussopt. Doch diese aufgeladene Atmosphäre ist nichts Neues, erinnert sich der ehemalige Präsident des Unterhauses Jean-Louis Debré. Auch die rund 20.000 Änderungsanträge sind im Vergleich zu den 140.000, die 2006 zur GDF-Privatisierung eingereicht wurden, relativ bescheiden. Obwohl die Nerven manchmal blank lagen und die Gewerkschaften die Atmosphäre der Debatten nicht gut fanden, hat die von La France Insoumise verfolgte Strategie ihr Ziel erreicht: die Abstimmung der Abgeordneten über die Reform zu verhindern. Außerdem ist die Mehrheit der Franzosen der Ansicht, dass die Regierung die Hauptverantwortung für diese Situation trägt, da für die Debatte nicht genügend Zeit eingeplant wurde.

Im Gegensatz zur offenen Konfrontation durch FI und Teilen der NUPES verhielt sich das Rassemblement National während dieser Ereignisse eher zurückhaltend. Zwar ist Marine Le Pens Partei gegen die Reform, aber ihr diesbezügliches Programm hat sich mehrmals geändert, und das RN verpasst keine Gelegenheit, das französische Sozialmodell anzugreifen. So hat die extreme Rechte gegen die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns /(SMIC) gestimmt und will Arbeitgeberbeiträge abschaffen, was die Sozialversicherung erheblich schwächen würde. Letztlich ist es leicht vorstellbar, dass Marine Le Pen, hinter vorgehaltener Hand, auf die Verabschiedung der Reform hofft – und darauf, dass ihr die Wut der Französ*innen bei der nächsten Wahl zugutekommt. Ihre Strategie besteht darin, den Gewerkschaften vorzuwerfen, dass sie Macron in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen unterstützt haben, während sich das RN als verantwortungsvolle und kohärente Opposition bewiesen hat. Wieder einmal zeigen das RN und das Lager des Präsidenten, dass sie einander dringend brauchen: Indem sie sich gegenseitig den Rücken stärken, hoffen sie soziale und ökologische Themen zu umgehen und verlassen sich auf die (Alibi-)Opposition des Gegenspielers um die Wahlen zu gewinnen.

49.3 entzündet das Pulverfass

Angesichts des Ausmaßes der allwöchentlichen Mobilisierung haben einige LR-Abgeordnete schließlich ihre Unterstützung der Reform zurückgezogen. Dieser Gesinnungswandel kann als überwiegend opportunistisch gedeutet werden, denn ihre Präsidentschaftskandidatin Valérie Pécresse verteidigte den Ruhestand mit 65 Jahren. Die Tatsache, dass die Partei ein sehr niedriges Ergebnis erreichte (unter 5 Prozent) und dass die rechten Abgeordneten im Juni vor allem aufgrund ihrer lokalen Verankerung gewählt wurden – insbesondere in ländlichen Wahlkreisen mit starkem Widerstand gegen die Rentenreform –, scheint die Abstimmungsdisziplin untergraben zu haben. Als sich abzeichnete, dass das Abstimmungsergebnis über den endgültigen Gesetzentwurf sehr unsicher war, beschloss Macron am 16. März, den Artikel 49.3 der Verfassung zu nutzen, der die Annahme eines Gesetztextes ohne vorherige Abstimmung durch die Nationalversammlung ermöglicht, und damit das politische Überleben der Regierung aufs Spiel zu setzen. Eine Entscheidung, mit der die soziale Krise um eine demokratische Krise erweitert wurde.

Als Reaktion auf diesen Kraftakt haben Macrons Gegner einen Misstrauensantrag eingereicht, mit dem die Regierung und die Reform gestürzt werden können, wenn mehr als 50 Prozent der Abgeordneten dafür stimmen. Zum ersten Mal seit den Parlamentswahlen wurde dieser Antrag parteiübergreifend unterstützt und zeugt von einer Ausweitung der Front der Gegner. Elisabeth Borne und ihre Minister überlebten letztlich dank 9 Stimmen, doch die Gemäßigten der LIOT-Fraktion und ein Drittel der LR-Fraktion (19 von 61 Abgeordneten) stimmten für den Misstrauensantrag. Neben der Ablehnung der Reform wurde auch dadurch die völlige Missachtung der parlamentarischen Arbeit bestraft. Um den Kampf fortzusetzen, nutzten die linken Abgeordneten und Senator*innen die letzten institutionellen Instrumente, die ihnen noch zur Verfügung stehen: eine Anrufung des Verfassungsrats auf der Grundlage der Tatsache, dass die Debatten «nicht klar und aufrichtig» waren, und erhoben die Forderung nach einem gemeinsamen Referendum. Diese beiden Handlungsmöglichkeiten hängen jedoch vom guten Willen des Verfassungsrates ab, der in der Regel zugunsten der politischen Machthaber entscheidet. Bis zur Entscheidung über diese Schritte scheint die explosive Atmosphäre im Parlament die Diskussion über weitere Gesetze zu blockieren. So verzichtete die Regierung vorübergehend auf die Prüfung eines Einwanderungsgesetzes und die Kommunistische Partei überlegt, nicht mehr an Parlamentssitzungen teilzunehmen, bis die Reform endgültig zurückgezogen wird.

Auf dem Weg zu einer Radikalisierung?

Auf der Straße hat die Tatsache, dass die Abstimmung über den Misstrauensantrag so knapp ausfiel, die Demonstrant*innen noch weiter angeheizt, da sie darin ein Signal sehen, dass ein Sieg nun in greifbarer Nähe sei. Während die Regierung hoffte, dass die Bevölkerung resignieren würde, gingen am 23. März nach Angaben der Gewerkschaften erneut 3,5 Millionen Menschen auf die Straße (1,1 Millionen laut Polizeiangaben). Parallel dazu häufen sich spontane Demonstrationen, vor allem in Paris, wo sie jeden Abend stattfinden. Während einige Demonstrant*innen Mülleimer anzünden oder Banken und Abgeordnetenbüros demolieren, bleibt die überwältigende Mehrheit friedlich. Die Regierung reagiert mit Repressionen, mit Tränengas, willkürlichen Festnahmen und Blendgranaten. Die BRAV-M, besonders gewaltbereite Motorradeinheiten der Polizei, wurden massiv eingesetzt, um Terror zu verbreiten. Das Gewaltniveau auf den Straßen steigt, vor allem seitens der Polizei, wie französische und internationale Organisationen wie Amnesty International, der Europarat und die Menschenrechtsverteidigerin Claire Hédon (in Frankreich ein offizielles Staatsamt) hervorgehoben haben. Auch wenn Macron darauf hofft, dass dieses Klima der Gewalt den flächendeckenden Wiederstand letztlich delegitimieren wird, glauben 70 Prozent der Französ*innen, dass die Regierung «weitgehend dafür verantwortlich ist» und 61 Prozent, dass sie die «einzige Möglichkeit ist, sich Gehör zu verschaffen».

Schließlich nehmen die Streiks seit einer Woche zu – trotz der Repressionen, der Strafanträge gegen Arbeitnehmer, des Einsatzes von sogenannten Streikbrechern und der illegalen Versuche Streikende zu entlassen. Die Hoffnungen auf einen Rückzug der Regierung beruhen insbesondere auf den Streiks in den Raffinerien, deren Auswirkungen sich allmählich bemerkbar machen: Am Montag, 27. März, fielen mehr als 16 Prozent der Tankstellen des Landes mindestens teilweise aus. Ein Anzeichen für die Verärgerung einer sehr großen Mehrheit der französischen Bevölkerung ist, dass es sogar in sehr konservative Institutionen wie dem Rechnungshof oder der Panthéon-Assas-Universität zu Blockaden und Streiks gekommen ist. Trotz der Entschlossenheit des Staatspräsidenten scheint ein Sieg der sozialen Bewegung daher möglich zu sein. In welcher Form? Eine bloße Umgestaltung der Regierung wird nicht ausreichen, um die Ruhe wiederherzustellen, und eine Auflösung der Nationalversammlung würde zum Verlust von Sitzen für das Macron-Lager führen. Was ein Referendum angeht, so besteht kein Zweifel an seinem Ergebnis. Die Rücknahme der Reform scheint also die beste Option für Macron zu sein. Wie auch immer dieses soziale Kräftemessen ausgeht, es wird zweifellos ein Meilenstein in der französischen Geschichte markieren.

William Bouchardon ist Leiter des Bereichs Wirtschaft des unabhängigen Meinungsmediums «LVSL». Er hat einen Abschluss in Politikwissenschaft des IEP in Grenoble.