Das Paradox der französischen Gewerkschaftsbewegung

09.05.2023
Maxime Quijoux
Sophie Binet, Generalsekretärin der CGT, Laurent Berger, Generalsekretär der CFDT und Marylise Leon, stellvertretende Generalsekretärin der CFDT, demonstrieren auf der 1. Mai-Demo in Paris gemeinsam gegen die Rentenreform

***Version française ci-dessous***

 

Durch schwindende Mitgliederzahlen und interne Spaltungen, schienen die französischen Gewerkschaften lange ihrem Niedergang geweiht. Vor diesem Hintergrund, sind die nach außen demonstrierte Einheit der sogenannten intersydicale seit Beginn der Proteste gegen die Rentenreform, sowie interne Erneuerungsprozesse, in vielen Hinsichten historisch. Erleben die Gewerkschaften in Frankreich eine Renaissance?

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten versammelten sich am 1. Mai 2023 in Frankreich alle Gewerkschaftsorganisationen zu einer großen gemeinsamen Demonstration.  Nach zwölf Demonstrationstagen, die durchschnittlich im ganzen Land ein bis drei Millionen Menschen auf die Straßen brachten, war die sogenannte intersyndicale (dt. Zusammenschluss der Gewerkschaften) bestrebt, den Druck auf die Regierung aufrechtzuerhalten. Obwohl das Gesetz zur Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre letztendlich verabschiedet wurde, scheinen die Arbeitnehmer*innenorganisationen die großen Gewinner dieser Mobilisierungsrunde zu sein. Diese soziale Bewegung, die von den beiden wichtigsten Gewerkschaftsbündnissen – der Confédération Générale du Travail (CGT) und der Confédération Française Démocratique du Travail (CFDT) – getragen wurde, hat den Gewerkschaften in Frankreich einen unerwarteten Impuls verliehen. Die meisten Meinungsumfragen deuten auf eine starke Unterstützung in der Bevölkerung hin, was die rekordverdächtigen Beitritte seit Jahresbeginn zu belegen scheinen. Auch wenn die intersydicale als führende soziale Kraft erscheint, die in der Lage ist, Millionen von Französ*innen über mehrere Wochen zu mobilisieren, verbirgt sich dahinter eine viel kontrastreichere Realität, die die französische Gewerkschaftsbewegung zu einem Paradox macht.

Eine dauerhaft geschwächte Gewerkschaftsbewegung

Frankreich erlebte im Laufe seiner neueren Geschichte größere soziale  Konflikte an denen sich die Gewerkschaften beteiligt sahen. Das kollektive Gedächtnis besonders geprägt haben die flächendeckenden Streiks für bessere Arbeitsbedingungen in 1936, die Streiks im Rahmen der Befreiung Frankreichs  nach dem 2. Weltkrieg, größere Streiks im Zuge des Maiʼ68, sowie der Streik im Dezember 1995 gegen eine unter Chirac geplante Reform des Renten- und Sozialversicherungssystem. Im Zuge dieser Streikwellen konnten bedeutende soziale Errungenschaften erzielt werden wie bezahlten Urlaub, die Aushandlung von Kollektivverträge, die Verbesserung der Sozialversicherung und Arbeitszeitverkürzungen. Auf den ersten Blick scheint Frankreich ein Land zu sein, in dem die Gewerkschaften eine dominierte Stellung im Bereich der Arbeitsbeziehungen einnehmen. In Wirklichkeit zeichnet sich das Land jedoch, trotz Jahre in denen die CGT eine starken Anstieg der Beitrittszahlen erlebte (1936, 1945, 1968), durch eine viel geringere Gewerkschaftsmitgliedschaft aus als andere westliche Länder. Nachdem die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften zum Ende des Zweiten Weltkriegs fast 30 % der Bevölkerung erreichten, sank diese Quote danach fast ununterbrochen, bevor sie in den 1980er Jahren buchstäblich einbrach. Derzeit ist nur etwas mehr als 10 % der Bevölkerung Mitglied einer Gewerkschaft (18,4 % im öffentlichen Sektor und 7,8 % im privaten Sektor), was Frankreich zu dem Land mit der geringsten Gewerkschaftszugehörigkeit in Europa. Frankreich ist damit weit entfernt von der skandinavischen oder belgischen Gewerkschaftsbindung innerhalb der Bevölkerung, aber auch von südlichen Ländern des Kontinents.

Diese Unterschiede lassen sich im Wesentlichen durch unterschiedliche Traditionen in der Erscheinungsform und Arbeitsweise der Gewerkschaften erklären.  In Frankreich ist das Handeln der Gewerkschaften gekennzeichnet durch das militante Engagement ihrer Hauptakteur*innen und Mitglieder, welches einem assoziativen, politisch-aktivistischen Ansatz nahe kommt. Die höhere Mitgliederzahl in anderen westlichen Ländern kann hingegen durch die Entlastung der Arbeitnehmer*innen, durch die Übernahme administrativer Verwaltungsarbeit seitens der Gewerkschaften erklärt werden – ein Beispiel hierfür ist die Antragstellung auf Arbeitslosengeld. Der dramatische Rückgang des Gewerkschaftswesens in Frankreich liegt jedoch vor allem an der Tertiärisierung der Wirtschaft, in dessen Folge ehemalige Industrie-Hochburgen nach und nach verschwinden. Darüber hinaus die steigende Arbeitslosigkeit und das Auftreten zahlreicher atypischer Beschäftigungsverhältnisse, die Handlungsspielräume der Gewerkschaften erheblich geschwächt. Diese haben Mühe, sich an eine zunehmend zersplitterte Arbeitswelt anzupassen und bleiben weiterhin hauptsächlich im öffentlichen Sektor oder in Unternehmen mit mehr als 50 Beschäftigten verankert. Eine tiefgreifenden Neugestaltung ihrer gewerkschaftlicher Aufgaben und Einsatzbereiche, bleibt jedoch unumgänglich. Seit Anfang der 2000er Jahre haben zahlreiche Reformen Vereinbarungen auf branchenübergreifender und branchenweiter Ebene zugunsten von Betriebsvereinbarungen geschwächt. Seit 2018 hat die Verschmelzung der wichtigsten Arbeitnehmer*innenvertretungen in einer einzigen Instanz, dem Sozial- und Wirtschaftsausschuss (Conseil Social et Economique, CSE), zu einer sehr hohen Bürokratisierung der Gewerkschaftsarbeit geführt. Die gewählten Personalvertreter*innen erscheinen zunehmend isoliert und überfordert und sind gezwungen, bedeutungslose oder sozial regressive Vereinbarungen auszuhandeln.

Zwei gespaltene Lager

Vor diesem Hintergrund ist es für die Gewerkschaften schwierig, sich wirksam gegen eine Politik des sozialen Rückschritts zu wehren, die die aufeinanderfolgenden Regierungen seit vierzig Jahren verfolgen. Tatsächlich sind die bedeutenden gewerkschaftlichen Siege von 1995 und 2006 in einem Meer von Niederlagen untergegangen. Angesichts einer Politik die sich überwiegend den Prinzipien des freien Marktes verschrieben hat, gelingt es den Gewerkschaftsbünden nicht mehr, den vermehrten Maßnahmen zur Arbeitsmarktflexibilisierung, zum Abbau sozialer Rechte oder zur wiederholten Verschiebung des Renteneintrittsalters Einhalt zu gewähren. Trotz regelmäßiger Mobilisierungen, die ganze Sektoren wie Bildung, Verkehr oder Energie, lahm legten und Hunderttausende Menschen auf die Straße brachten (2003 oder 2010 sahen bereits massiven Protest damalige Pläne zur Rentenreform), waren die Gewerkschaften nicht in der Lage, den Gesetzgebungsprozess zu stoppen. Noch schlimmer: Im Herbst 2018 wurden die Gewerkschaften von der sogenannten Gelbwesten-Bewegung hervorragend umgangen und überholt. Die Gelbwesten-Bewegung erzielte mit dessen Forderungen einen relativ raschen Erfolg und erhielt fast 13 Milliarden Euro Prämien seitens der Regierung von Edouard Philippe.

Diese Niederlagen der Gewerkschaftsbewegung sind Großteils durch eine kompromisslose Haltung der Regierung bedingt, die sowohl auf verfassungsrechtliche Gewalt zurückgreift, wie z. B. durch die Berufung auf Artikel 49.3 der es erlaubt einen Gesetzestext ohne parlamentarische Abstimmung durchzusetzen, als auch auf polizeiliche Repressionen. Sie sind jedoch auch einer Gewerkschaftslandschaft zuzuschreiben, die durch tiefe Lagerkämpfe gekennzeichnet ist. Die beiden größten Gewerkschaftsverbände CGT und CFDT führen eine hitzige Beziehung, die bestenfalls darauf abzielt beide auf Distanz zu halten und schlimmstenfalls darauf, interne Kämpfe zu führen. Dieses bereits angespannte Verhältnis wurde durch neue Repräsentativitäts-vorschriften im Jahr 2008 verschärft, wodurch die Wahlen der Personalvertreter*innen zu einer strategischen Herausforderung beider Organisationen geworden sind. Historisch betrachtet stand die CGT lange unter dem Einfluss der französischen Kommunistischen Partei. Obwohl sie nun ihre strikte Unabhängigkeit von jeglicher politischen Gruppierung betont, hat sie eine kämpferische Sicht auf die Arbeitswelt, die sich durch eine ausgeprägte Streikaktivität auszeichnet, insbesondere in bestimmten Bereichen, in denen eine „Klassen“-Tradition weiterlebt (z.B. bei Hafen- und Raffineriearbeiter*innen, Eisenbahner*innen etc.). Die mittlerweile säkularisierte CFDT, die aus der Confédération Française des Travailleurs Chrétiens (CFTC) hervorgegangen ist, hat sich ihrerseits lange als Aushängeschild der Arbeiterselbstverwaltung (sog. Socialisme autogestionnaire) präsentiert, bevor sie Ende der 1970er Jahre eine auf Verhandlungen mit Arbeitgeber*innen und Staat ausgerichtete Strategie zu verfolgen begann. Diese Haltung führte dazu, dass die CFDT umstrittene Abkommen unterschrieb, was zu teils heftigen internen Konflikten führte, vor allem aber zu dauerhaften Rivalitäten mit der CGT.

Die Intersyndicale – ein Augenblick der Einheit

Seit den 1990er Jahren haben einige Gewerkschaftssekretäre versucht, diese Gegensätze zu überwinden. Einzelne, wie Louis Viannet und später Bernard Thibault, beide Generalsekretäre der CGT von 1992 bis 2013, setzten sich für „eine versammelte Gewerkschaftsbewegung“ ein, die darin bestehen sollte, eine Einheit der Kämpfe mit den anderen Gewerkschaftsorganisationen zu erreichen. Bereits 2010 führte der damalige Plan zur Erhöhung des Rentenalters bereits zu einem breiten Zusammenschluss der Gewerkschaften, der es ermöglichte mehrere hunderttausend Menschen für mehrere Monate auf die Straße zu bringen. Durch die Wahl von François Hollande und später von Emmanuel Macron wurden die internen Spaltungen wiederbelebt, wobei sich die CFDT erneut bemühte die Rolle des bevorzugten Gesprächspartner der Arbeitgeber*innen und der Regierung einzunehmen. Die Aushandlung des französischen Arbeitsgesetzes (loi travail) im Jahr 2016, das in einer Lockerung des Arbeitsrechts bestand, stellte einen Kristallisationspunkt zwischen den „Protestgewerkschaften“ und „Reformgewerkschaften“ dar. 2019 wehrte sich die CFDT nicht gegen eine geplante Rentenreform, obwohl das Projekt umfangreiche Proteste auslöste, bevor es letztendlich aufgrund der Covid-Pandemie aufgegeben wurde.  Vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie außergewöhnlich die aktuelle soziale Mobilisierung ist. Außergewöhnlich aufgrund ihres Umfangs und ihrer Dauer, aber auch aufgrund ihrer strategischen Ausrichtung: Alle Gewerkschaftsführer betonen immer wieder ihre Einheit, sodass die Frage der Streiks, insbesondere der verlängerbaren Streiks, in den Hintergrund rückt. Das erklärte Ziel ist letztlich weniger eine Stilllegung der Wirtschaft – die Gewerkschaften zweifeln, nicht zuletzt aufgrund der Inflation, hierzu fähig zu sein – als die Eroberung der öffentlichen Meinung.

Selbst wenn eine Mehrheit der Arbeiter*innen einiger Branchen beschließt, ihre Arbeit niederzulegen und ganze Standorte zu blockieren, wie etwa die Raffinerie- und Hafenarbeiter*innen oder die Müllwerker*innen, zeugt der zaghafte Aufruf des 7. März „Frankreich stillzulegen“, von der Zurückhaltung der intersyndicale, die Bewegung in einen ausgedehnten und verlängerten Streik zu führen. In der Tat tun sich einige Bereiche die bei Streiks im Allgemeinen führend sind, wie etwa der Transport, schwer, ihre Beschäftigen zu mobilisieren. Zumindest von einem unbestreitbaren Erfolg ist die Strategie der Einheit gekrönt: Neben den Millionen von Menschen, die zwölf Wochen lang auf die Straße gingen, zeigen die Meinungsumfragen eine massive Ablehnung des Reformvorhabens der Regierung (93 % der aktiven Bevölkerung) und, was neu ist, eine mehrheitliche Unterstützung der Öffentlichkeit für die Rolle der Gewerkschaftsorganisationen in der Gesellschaft. Die starke Mobilisierung in einer Vielzahl kleiner und mittel-großer Städte im ganzen Land stärkt die gesellschaftliche Basis der Gewerkschaftsorganisationen und bringt die zum Zeitpunkt der Gelbwesten hervorgebrachte Kritik zum Verstummen, dass die Gewerkschaften von ländlicheren Regionen völlig entfremdet seien. Gleichzeitig erscheit die Regierung immer isolierter, irrationaler und von den Französ*innen entfernt.

Erleben die Gewerkschaften in Frankreich eine Renaissance?

Am 14. April hat der Verfassungsrat das neue Rentengesetz bestätigt und der Regierung Borne zumindest einen rechtlichen Sieg gesichert, wenn es schon keinen politischen gibt. Doch obwohl die Mobilisationsaufrufe zu wöchentlichen Protesten abnehmen, halten die Proteste gegen die Reform an. Regierungsmitglieder werden bei allen ihren Reisen von Blockaden, Buhrufen oder Kochtopf-Konzerten verfolgt. Emmanuel Macrons Beliebtheit ist abgestürzt und hat wieder das Niveau während der Gelbwestenkrise erreicht. Einige militante Organisationen wie Attac fordern bereits dazu auf, die nächsten Olympischen Spiele massiv zu stören, die im Sommer 2024 in Paris ausgetragen werden sollen. Während die gesamte Regierung darauf drängt, „ein neues Kapitel aufzuschlagen“, gibt es bei den beiden größten Gewerkschaftsorganisationen gleichzeitig deutliche Veränderungen in der Führungsriege. Diese können erhebliche Auswirkungen auf das Weiterleben der soziale Bewegung und darüber hinaus auf die (demokratische) Krise haben, in der sich Frankreich gerade befindet. Nach einem konfliktreichen Kongress Ende März in Clermont-Ferrand ernannte die CGT mit Sophie Binet zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine Frau, die aus einer Gewerkschaft von Führungskräften und aus dem christlichen und studentischen Aktivismus herkommt. Binet ist bekannt für ihr langjähriges Engagement in den Bereichen Arbeit, Feminismus und Ungleichheit und hat sofort ihre Entschlossenheit im Kampf gegen die Rentenreform bekundet. Sie orientiert sich an den Positionen der intersyndicale, die die Aufhebung des Gesetzes zur Voraussetzung für Gespräche mit der Regierung macht. In dem Bestreben, ihre Legitimität innerhalb ihrer CGT zu stärken, verkündet sie in Medien und sozialen Netzwerken ihre Unterstützung für verschiedene kämpfende Branchen, insbesondere für jene, die ihrem Vorgänger am kritischsten gegenüberstanden. Gleichzeitig erklärte Laurent Berger, Generalsekretär der CFDT, seinen Platz für Marylise Léon, stellvertretende Sekretärin der Organisation, zu räumen. Diese wird ihm am 21. Juni nachfolgen und besitzt ein ähnliches Profil wie Sophie Binet: Sie ist eine Frau um die Vierzig, die lange in einem Beratungsunternehmen tätig war, bevor sie der Föderation der Chemie- und Energiegewerkschaften (EMCEF) beitrat, wo sie Fragen der industriellen Risiken abdeckte. Innerhalb der Geschäftsleitung der CFDT, der sie 2018 beitrat, ist sie sich besonders im Bereich sozialer Rechte engagiert, was dazu geführt hat, dass sie Verbindungen zu zivilgesellschaftlichen Organisationen, aber auch und vor allem zu den einzelnen Gewerkschaften aufgebaut hat.

Es dürfen daher mit Recht Auswirkungen dieser von der Spitze ausgehenden Umgestaltung der beiden größten Gewerkschaftsorganisationen erwartet werden, die gemeinsam mehr als eine Million zweihunderttausend Mitglieder im Land vertreten. Angesichts des autoritären Führungsstils der Regierung und des Präsidenten, kann man davon ausgehen, dass sich die Bande, die während des Rentenkampfes zwischen den Gewerkschaften geknüpft wurden, positiv auf künftige gemeinsame Kämpfe auswirken werden. Es ist auch zu hoffen, dass diese Generationenerneuerung ein besseres Verständnis neuer gewerkschaftlicher Herausforderungen im Zusammenhang mit Prekarität, geschlechtsspezifischer Ungleichheit und Gewalt oder ökologischen Fragen hervorbringt. Aber es wäre naiv, sowohl die strukturellen  Hürden als auch die grundlegenden Unterschiede zu vergessen, die diese beiden Gewerkschaften kennzeichnen und auf die in diesem Artikel ausführlich eingegangen wurde. Die Zusammenlegung der Arbeitnehmer*innenvertretungen hat die Gewerkschaftsstrukturen erheblich geschwächt und die Auswirkungen davon werden uns jetzt bewusst. Zudem wäre es falsch zu glauben, dass die CFDT ihre Bestrebungen, als privilegierter Gesprächspartner der politischen und wirtschaftlichen Macht aufzutreten, aufgegeben hat. Ebenso hat der CGT-Kongress wieder Tendenzen in den Vordergrund gerückt, die starke Diskurse des Aufbruchs und der Konfrontation mit der kapitalistischen Ordnung fordern. Tatsächlich unterscheiden sich beide Gewerkschaftsbünde in ihren politischen Vorschlägen erheblich voneinander, angefangen beim Rentendossier. Vor diesem Hintergrund erscheint es schwierig, den vereinten Erfolg der aktuellen Mobilisierung langfristig aufrechtzuerhalten. Schließlich scheint die gemeinsame Ablehnung aller Gewerkschaften einer eventuellen Annäherung an politische Lager, die Möglichkeit einer substanziellen Verbesserung sowohl der Arbeitssituation als auch des Gewerkschaftswesens in Frankreich zu belasten. Die einheitliche Proteststrategie der intersydicale war zudem zutiefst „legitimistisch“, indem sie alle institutionellen Schritte der Gesetzesvorbereitung strikt beachtete. Indem sie sich hüten, mit verbündeten politischen Akteur*innen gemeinsame Lösungsmöglichkeiten zu schaffen, gleichzeitig jedoch die parlamentarischen Regeln respektieren, schaffen die französischen Gewerkschaften ein weiteres Paradox, dass überwunden werden muss. Ein Paradox mehr.   

 

Maxime Quijoux ist Soziologe, Politikwissenschaftler und Forschungsbeauftragter am Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Seine Forschungsschwerpunkte sind Arbeitnehmer-Kämpfe, Gewerkschaftswesen und Unternehmenssoziologie