Angespannte Bündnisse in der norwegischen Politik

31.07.2023
Ingrid Wergeland
Premierminister Jonas Gahr Støre und sein Kabinett während der Eröffnung des 167. norwegischen Parlaments am 3. Oktober 2022

In den ersten beiden Jahren der norwegischen Koalitionsregierung zwischen Arbeiderpartiet (Arbeiterpartei) und Senterpartiet (Zentrumspartei) haben die Herausforderungen zugenommen. Auf internationaler Ebene dominierten Debatten über Solidarität, während die wirtschaftliche Ungleichheit im Land zugenommen hat.

 

Ein neuer Hoffnungsschimmer?

Die Erwartungen an einen echten politischen Wandel nach den Wahlen im September 2021 waren hoch. Die Mitte-links-Parteien und die sozialistischen Parteien hatten nach acht Jahren konservativ-liberaler Kürzungen wohlfahrtstaatlicher Leistungen und des öffentlichen Sektors, Steuersenkungen für Reiche und staatliche Investitionen in kommerzielle Gesundheitsdienste, eine solide Mehrheit im Parlament errungen.

Acht Jahre zuvor hatten die Arbeiterpartei und die Zentrumspartei zusammen mit der Sosialistisk Venstreparti (Sozialistische Linkspartei, SV) in einer sogenannten „rot-grünen Koalition“ regiert, und während des gesamten Wahlkampfs im Jahr 2021 verwendete die Arbeiterpartei einen Slogan, der von ihrer dänischen Schwesterpartei inspiriert zu sein schien: „Jetzt sind die einfachen Leute an der Reihe“.

Die drei rot-grünen Parteien präsentierten im Vorfeld zwar keine gemeinsame Plattform, doch die Zentrumspartei erklärte, sie strebe eine Regierungsbildung mit der Arbeiterpartei an, und distanzierte sich damit deutlich von den Konservativen. Die Arbeiterpartei wiederum erklärte die sozialistischen Linkspartei (SV) als ihren natürlichen Koalitionspartner zusammen mit der Partei Zentrum.

Nach der Auszählung der Stimmen hatten die drei Parteien erneut die Möglichkeit, eine Mehrheitsregierung zu bilden, und mit dem nationalen Durchbruch einer anderen sozialistischen Partei, Rødt (Rot), schien sich der politische Wind endgültig nach links gedreht zu haben. Während die Arbeiterpartei, die Zentrumspartei und die sozialistische Linkspartei über eine gemeinsames Regierungsbildung verhandelten, konnten sie jedoch keine gemeinsame Basis finden. Beim Austreten aus den Verhandlungen erklärte die SV, dass politische Auswirkungen wichtiger seien als Ministerposten und warnte die von der Arbeiter- und Zentrumspartei geführte Regierung davor, im Parlament zwischen den Konservativen und den Sozialisten einen „Slalom“-Kurs zu verfolgen.

Politische Kommentator:innen in den Mainstream-Medien schienen überrascht zu sein, dass die SV nicht bereit schien von ihrem politischen Kurs abzuweichen, um einflussreiche Positionen zu gewinnen. Doch bald wendete sich das Blatt. Obwohl SV nicht Teil der Regierung war, konnte sie, als „Zünglein an der Waage“, über das Machtgleichgewicht im Parlament bestimmen und erlangte dadurch eine führende Rolle bei der Erarbeitung und Festlegung des Staatshaushalts. Plötzlich waren alle Augen auf die SV gerichtet.

Die Partei hielt bezüglich ihrer beiden Hauptprioritäten erfolgreich an ihrer Linie fest: den Kampf gegen wirtschaftliche Ungerechtigkeit und die Senkung umweltschädlicher Treibhausgasemissionen. Bei den anschließenden Haushaltsverhandlungen errang die SV viele politische Siege und erntete öffentliche Anerkennung als führende Kraft in sozialen und ökologischen Fragen. Sie setzte eine teilweise kostenlose Nachschulbetreuung für Kleinkinder durch, erhöhte Kapital- und Einkommensteuer für die höchsten Einkommen, erhöhte Sozialleistungen für Familien mit Kindern, erhöhte die Kohlenstoffsteuer für die Ölindustrie und sorgte dafür, dass 2022 keine neuen Genehmigungen für die Erdölsuche erteilt wurden. Was der Landeshaushalt allerdings nicht vorhersah, war der bevorstehende Anstieg der Energiepreise.

 

Energiepreiskrise

Norweger:innen sind aufgrund der natürlichen Ressourcen des Landes an niedrige Energiepreise gewöhnt, aber eine engere Anbindung an ausländische Märkte hat Verbraucher:innen Preisschwankungen und scheinbar dauerhaft höheren Preisen ausgesetzt. Der enorme Anstieg der Strompreise im Herbst 2021 brachte die Regierung in eine schwierige Lage. Die auf ländlichen und landwirtschaftlichen Interessen setzende Zentrumspartei hätte traditionell die ungünstigen Folgen der Anbindung an den europäischen Energiemarkt für die Verbraucher:innen kritisiert. Als Regierungspartei konnte Sie jedoch ihren Widerstand gegenüber der EU nicht hemmungslos aussprechen, während die Arbeiterpartei die Integration des Europäischen Wirtschaftsraum stark befürwortet.

Die Regierung setzte rasch wirtschaftliche Hilfen für die erhöhten Stromrechnungen der privaten Haushalte ein, aber dies löste nur einen kleinen Teil des Problems. Die energieintensive Industrie profitiert seit mehr als hundert Jahren vom Zugang zu billiger Energie in Norwegen, und sowohl die Gewerkschaften als auch die Industrie begannen ihre Besorgnis zum Ausdruck zu bringen. Obwohl dies für jede norwegische Regierung ein Grund zur Sorge wäre, machte die enge Verbindung der Arbeiterpartei zu den Gewerkschaften diese für Kritik besonders anfällig, und da diese Industrien typischerweise in ländlichen Gebieten angesiedelt sind, wurde auch die Glaubwürdigkeit der Zentrumspartei bei ihrer Wählerschaft geschwächt.

Die meisten Elektrizitätsgesellschaften sind entweder staatseigene oder regionale öffentliche Betriebe, werden aber als Handelsunternehmen geführt. Sowohl die SV als auch Rødt griffen in die öffentliche Debatte ein und forderten ein stärkere politische Kontrolle der Machtverteilung, statt es dem Markt zu überlassen über den Preis zu entscheiden und anschließend die Probleme mit öffentlichen Zuschüssen zu flicken.

Die Regierung weigerte sich jedoch, die Unternehmen anzuweisen, ihre Preise zu senken oder eine ausreichende Wasserspeicherung in den Wasserkraftanlagen sicherzustellen. Dies führte zu einer absurden Situation: Staatseigene Unternehmen erzielten immer höhere Gewinne, während derselbe Staat Teile dieser Gewinne der Bevölkerung unter Form von Zuschüsse zurückgab.

 

Das Imperium schlägt zurück

Außenpolitik ist in Norwegen selten eine Quelle politischer Unterstützung, und Russlands Invasion der Ukraine brachte widersprüchliche Themen in die öffentliche Debatte. Die Einstellung zu Russland und die Beziehungen zu diesem Land sind in den einzelnen Teilen des Landes unterschiedlich. Diejenigen, die in der Nähe der gemeinsamen Grenze im Norden leben, verfügen über eine lange Geschichte des gemeinsamen Handels und des kulturellen Austauschs über die Grenze hinweg, und auch die Erinnerung an Russland als Verbündeten und Befreier im Zweiten Weltkrieg, ist in dieser Region stärker ausgeprägt. Die häufigste Sicht auf Russland ist jedoch die einer Supermacht in unangenehmer Nähe.

Seit der russischen Invasion haben sowohl die Arbeiterpartei als auch die Zentrumspartei gemeinsam mit den liberalen und konservativen Parteien in Norwegen eine gemeinsame Position in der norwegischen Außenpolitik eingenommen und sind seit Beginn der Invasion nicht von der NATO-Strategie abgewichen. Im Gegensatz dazu für die beiden sozialistischen Parteien seit der russischen Invasion der Ukraine, Debatten über das Verhältnis Norwegens zur NATO und die militärische Unterstützung der Ukraine.

Für die SV ging es darum, ob die norwegische NATO-Mitgliedschaft grundsätzlich unterstützt werden soll oder nicht, während sich Rødt mit der Frage auseinandersetzt, ob die Partei die Entsendung von Waffen in die Ukraine unterstützen sollte. Obwohl diese Debatten innerhalb zwei eher kleinen sozialistischen Parteien (SV 7,4 % und Rødt 4,7 %, 2021) geführt wurden, fanden beide im öffentlichen Raum statt.

Als die Regierung begann, Waffen in die Ukraine zu versenden, war der Nationalvorstand der SV in der Frage gespalten und stimmte nur sechs Tage nach der Invasion mit 21 zu 18 Stimmen gegen den Waffenversand. Nach ein paar Wochen Debatte hielt der Landesvorstand der SV eine neue Sitzung ab, in der der Lieferung von „Abwehr“-Waffen zugestimmt wurde. Die Rødt hingegen hielt an ihrem Standpunkt fast ein weiteres Jahr fest, bevor sie sich auch für die Unterstützung der Ukraine durch Waffenlieferung entschied.

Diese Debatten fanden zwar öffentlich statt, dürften aber keine größeren politischen Folgen haben. Die SV schlug nie vor, die norwegische NATO-Mitgliedschaft im Parlament zur Abstimmung frei zu stellen und wenn, hätte sie sich nicht erträumen können genügend Unterstützung für einen Austritt zu erhalten. Auch wenn Rødt erst mehr als ein Jahr nach der Invasion beschlossen hat, die Waffenlieferung an die Ukraine zu unterstützen, halten sie nur 8 von 169 Sitzen im Parlament. Obwohl Kritiker:innen beide Debatten als Nabelschau verurteilten, waren beide Parteien die einzigen, die sich mir der Außenpolitik des Landes kritisch auseinandersetzten, anstatt bloß hinter der westlichen Hemisphäre zurückzufallen.

Norwegen selbst ist Waffenproduzent, verfolgt aber, infolge einer parlamentarischen Debatte im Jahr 1959, eine restriktive Politik des Waffenverkaufs an Länder, die sich derzeit im Krieg befinden, vom Krieg bedroht sind oder einen Bürgerkrieg durchleben. Nur wenige Tage nach der russischen Invasion kündigte Ministerpräsident Jonas Gahr Støre an, dass Norwegen Waffen – sowohl sogenannte Abwehrwaffen als auch Raketen – an die Ukraine liefern werde, was einer Waffenspende im Wert von 2 Milliarden norwegischer Kronen (knapp 200 Millionen Euro) entsprach. Abgesehen von der sozialistischen Linkspartei (SV) und Rødt gab es von Anfang an fast einstimmige parlamentarische Unterstützung für diesen Schritt. Dennoch wurde die Frage aufgeworfen, ob Norwegen eine so aktive Rolle spielen sollte. Einige befürchteten, dass Norwegen aufgrund seiner gemeinsamen Grenze zu Russland im Norden riskiere, sich durch Waffenspenden zu sehr in den Konflikt einzumischen.

 

Kein „Nein zur NATO“ mehr?

Mit der Entscheidung der SV Waffenlieferungen zu unterstützten begann jedoch eine neue Debatte darüber, ob die Partei ihre historische Anti-NATO-Stellung beibehalten sollte, wobei einige in der Partei argumentierten, die Invasion sei ein Anlass dafür, das Parteiprogramm zu überdenken. Für viele Mitglieder berührt diese Frage jedoch gewissermaßen die Seele der Partei. Die SV, oder besser gesagt ihr Vorläufer, wurde im Jahr 1961 von ehemaligen Arbeiterpartei-Mitgliedern gegründet, die unter anderem den Widerstand gegen die NATO-Mitgliedschaft Norwegens und gegen Atomwaffen befürworteten, sowie auf einen „dritten Weg“ im geopolitischen Patt zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion setzten.

In jüngster Zeit bildeten die gebietsfremden NATO-Einsätze und die dominante Rolle der Atommacht USA im Bündnis die Basis für viele Parteimitglieder, den aktiven Widerstand gegen eine NATO-Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten. Andere wiederum argumentieren, dass die Verteidigungspolitik der Partei schlicht unrealistisch sei. Sie argumentierten, dass die Idee eines gemeinsamen nordischen Verteidigungsbündnisses – etwas, das die SV seit langem als Alternative zur NATO vorschlägt – keine Option mehr sei, insbesondere, da sowohl Schweden als auch Finnland ihre neutralen Positionen aufgaben um der NATO beizutreten.

Die Debatte wurde in lokalen und regionalen Parteikreisen bis zum Nationalkongress der Partei im März 2023 fortgesetzt, der eine Erklärung befürwortete, die ausdrücklich auf das im Parteiprogramm für den Zeitraum 2021 bis 2025 festgelegte Ziel eines Ausstiegs Norwegens aus der NATO verzichtete. Die fünfseitige Erklärung übte scharfe Kritik an der Strategie der NATO bezüglich gebietsfremder Einsätze und an Atomwaffen und äußerte den Wunsch nach einem europäischen oder nordischen Schwerpunkt innerhalb des NATO-Bündnisses. Auf diese Weise wurden beide Seiten der Debatte anerkannt und in Bezug auf die Frage, von der viele befürchtet hatten, dass sie die Partei spalten würde, wurde ein erträglicher Kompromiss gefunden: Die Kongressdelegierten stimmten 184 zu 24 für die Erklärung.

Im starken Gegensatz dazu hat Rødt ihre starke Anti-NATO-Position beibehalten. Im Januar 2023 sprachen sich drei Parteiveteranen klar für die Entsendung von Waffen in die Ukraine aus, was zu einer internen Debatte führte - zum großem Interesse von Journalist:innen und politischen Kommentator:innen. Einige Parteimitglieder argumentierten, dass die NATO ein aggressives, imperialistisches Bündnis sei und sich Norwegen durch die Entsendung von Waffen zu sehr an dem Krieg beteilige. Sie argumentierten, es brauche einen Dialog für den Frieden und nicht für mehr Waffen. Die Befürworter:innen der Lieferung von Waffen sprachen sich daraufhin für die Solidarität mit dem ukrainischen Volk aus und betonten, dass Norwegen einen ähnlichen Bedarf an militärischer Unterstützung hätte, würde es an der Stelle der Ukraine stehen.

Es entbrannte eine weitere Debatte – ähnlich der Debatte über die „Seele der Partei“ innerhalb der SV – darüber, ob die Rødt eine pazifistische bzw. Friedenspartei sei oder nicht. Es wurde argumentiert, dass die Lieferung von Waffen an die Ukraine die Tür öffnen würde, um Waffen an Palästinenser:innen und andere Völker zu liefern, die sich in aktiven bewaffneten Kämpfen befinden, nachdem sie Opfer von Verstößen gegen das Völkerrecht geworden sind. Am Ende stimmten 107 Kongressdelegierte der Rødt für die Waffenlieferung an die Ukraine und nur 74 Delegierte dagegen.

Die russische Missachtung des Völkerrechts hat eine weltweite Neubewertung der geopolitischen Situation erzwungen, was sich in der norwegischen Politik widerspiegelt. Die außenpolitische Diskussion hat sich hin zu geografisch näheren Bedrohungen verlagert und ein allgemein NATO-freundlicheres Klima geschaffen, wobei kritische Stimmen immer mehr an den Rand gedrängt werden. Während eine sachkundige Debatte über die Außenpolitik des Landes weiterhin notwendig ist, ist die Frage für oder gegen eine NATO-Mitgliedschaft zu eng gezogen, um den aktuellen Zustand des Imperialismus zu beleuchten und zu überlegen, wie am besten darauf reagiert werden kann.

 

Teure Zeiten

Wie bereits erwähnt, stellen die zunehmenden Klassenunterschiede eine weitere große Herausforderung für Norwegen dar. Die steigenden Strompreise trafen zuerst die Erwerbsbevölkerung. Eine Änderung der Lebenshaltungskosten trifft natürlich alle, aber sie trifft besonders Menschen, die bereits zu kämpfen haben, noch härter. In nur wenigen Monaten hat die allgemeine Inflation ein Rekordniveau erreicht. Die norwegische Zentralbank steht nicht unter direkter politischer Kontrolle, sondern agiert unabhängig um durch die Kontrolle der Zinssätze eine niedrige Inflation sicherzustellen, und hat die Zinsen nun auf den höchsten Stand seit fünfzehn Jahren angehoben. Drei von vier Norweger:innen sind Hausbesitzer:innen, und folglich ist die Schuldenquote hoch, was die norwegischen Haushalte anfällig für Zinserhöhungen macht. Diese Belastung durch die gestiegenen Lebenshaltungskosten könnte ein Grund dafür sein, die Armut und das niedrige Niveau der Sozialleistungen wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Sowohl die sozialistische Linkspartei als auch die Rødt weisen seit Jahren auf diese Probleme hin, aber erst jetzt stehen sie auf der allgemeinen Tagesordnung.

Trotzdem wurde die Rødt auf dem linken Feld sozusagen ausgespielt, da ihre Stimmen nicht nötig sind, um eine Mehrheit zu erreichen. Im Wahlkampf der Kommunalwahlen 2019 sagte ihr Parteichef wiederholt, dass sich die Rolle der Rødt in der norwegischen Politik verändert habe und argumentierte, sie sei kein Wachhund mehr, sondern ein „Schlittenhund“. Wo sie sich zuvor kritisch über die Unzulänglichkeiten der Politik anderer Parteien geäußert hatten, präsentierten sie jetzt radikale, progressive Alternativen, um die politische Dimension weiter nach links zu verlagern. Gleichzeitig hat die Rødt mehrfach deutlich gemacht, dass sie nicht die Absicht hat, Teil einer Regierungskoalition zu sein. Eine Machtverweigerung die sie von der sozialistischen Linkspartei unterscheidet, die unmittelbar nach den Wahlen 2021 versuchte, eine Regierungsplattform auszuhandeln und wiederholt ihre Bereitschaft bekundete neue Verhandlungen aufzunehmen.

Aktuellen Meinungsumfragen nach, haben sich die Zustimmungswerte für beide sozialistische Parteien seit den letzten Wahlen verbessert, während sich die Umfragewerte der beiden Regierungsparteien, die Arbeiterpartei und die Zentrumspartei, sich dramatisch verschlechtert haben. Angesichts der Tatsache, dass potenzielle regierende Mehrheiten außer Reichweite geraten, gibt es bei den Radikalen nicht viel Schadenfreude. Ihr willkommener Fortschritt gleicht nicht all die Stimmen aus, welche die gemäßigtere Linke in der norwegischen Politik verloren zu haben scheint.

 

Gemeinsamer Kampf für das gemeinsame Wohlergehen

Im September 2023 finden erneut Kommunalwahlen statt (jedes zweite Jahr finden in Norwegen abwechselnd lokale und nationale Wahlen statt). Die Arbeiterpartei regiert derzeit die meisten Großstädte in verschiedenen Koalitionen mit Parteien der Linken oder der Mitte. Neben den Gewerkschaften befürchten auch viele progressive Wähler:innen, dass sich der Rückgang in der nationalen Unterstützung für die Partei, auch auf die Kommunalwahlen auswirken wird.

Das könnte weitreichende Folgen haben, da die Kommunen für Sozialleistungen wie Altenpflege, Kindergärten und Kinderbetreuung verantwortlich sind. Die konservative Partei fordert offen, die Verantwortung für viele dieser Leistungen an private Handelsunternehmen zu übertragen. Die Unterstützung für universelle Sozialdienste ist nach wie vor hoch. Daher schlagen die Konservativen vor, das öffentliche Geld dafür auszugeben, private, gewinnorientierte Unternehmen für die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen zu bezahlen, und argumentieren, dass Dienstleistungen effizienter und besser werden, als wenn sie direkt von Mitarbeiter:innen des öffentlichen Sektors erbracht würden.

Die Linke und die Gewerkschaften argumentieren, dass kommerzielle Anbieter personell unzureichend besetzt werden, die Gehälter sinken und die Rentenleistungen schlechter werden würden. Außerdem gelten Transparenzgesetze, die staatliche Institutionen befolgen müssen, möglicherweise nicht für private Unternehmen. Tatsächlich zeigen die Erfahrungen aus Schweden, dass sowohl die Nutzer:innen als auch die Beschäftigten durch derartige Privatisierungen leiden, während private Firmen massive Gewinne durch das Geld der Steuerzahler:innen einkassieren.

Im Mai 2023 legte die Mitte-links-Regierung einen Basissatz für die Lachszucht fest, ähnlich der Steuern auf Benzin und Wasserkraft. Durch die Superprofite der Lachszucht, die in erheblichem Maße durch unsere gemeinsamen Fjorde erwirtschaftet wurden, hat diese neue Steuer auf politischer Ebene breite Akzeptanz erhalten. Über die Höhe dieser Steuer wird dagegen seit bereits acht Monaten heftig diskutiert.

Zur Überraschung vieler fand die Regierung Unterstützung bei der Liberalen Partei für eine sanfte Version der Steuer, anstatt wie zuvor erwartet mit der SV zusammenzuarbeiten – letzte plädierte neben einem höheren Steuersatz auf für Umweltauflagen. Wie die SV während der Regierungsbildung gewarnt hatte, machte die Regierung schließlich eine „Slalom-Wende“, um die Unterstützung der konservativen Parteien zu suchen, anstatt ein sozial und ökologisch gerechteres Ergebnis zu verfolgen.

Als Mitte Juni 2023 mit der Revision des Bundeshaushalts begonnen wurde, suchte die Mitte-links-Regierung erneut Unterstützung bei der SV und bot ihr die Chance auf weitere politische, rot-grüne Siege. Zu den erzielten Errungenschaften gehörten eine historische Erhöhung des allgemeinen Kindergeldes, höhere Sozialleistungen, kostenlose zahnärztliche Versorgung schutzbedürftiger Gruppen, subventionierte Solarpaneele-Projekte, die Unterstützung des grünen industriellen Wandels (ähnlich dem Net Zero Industry Act in der EU) und mehr Geld für den Waldschutz und den öffentlichen Nahverkehr.

Obwohl die Konservativen durch die Stärke der Sozialisten kompromissbereit wurden, wie der Fall des Basissatzes im Falle der Lachszucht zeigt, könnte die politische Handwerkskunst das mächtigste Instrument der Linken sein, um die Regierung vor dem Abwandern zu bewahren.

 

Ingrid Wergeland (geboren 1978) ist norwegische Soziologin und Schriftstellerin. Sie ist Mitglied der SV und für die politische Kommunikation in der Denkfabrik „Manifest“ verantwortlich. Sie hat Analysen zu verschiedenen Themen rund um den Sozialstaat und die Arbeitnehmer:innenrechte veröffentlicht.