Europäische Solidarität – nicht zum Nulltarif

Vortrag von Friedhelm Hengsbach SJ

30.06.2011

Kurze Thesen zum längeren, unten dokumentierten Text:

" (1) Europa steht Kopf, ist irritiert durch die Sprache der Märkte. Die Sprache der Märkte soll "informationseffizient" sein. Die Börsenkurse liefern authentische Signale über die Chancen und Risiken zukünftiger Finanzinvestitionen, heißt es. Tatsächlich spiegeln sie kollektive Euphorie, emotionalen Überschwang, irrationale Übertreibungen und Herdenverhalten auf Grund von Gerüchten und Ansteckungseffekten. Die Sprache der Märkte ist eine Sprache asymmetrisch verteilter Macht, nämlich der institutionellen Intermediäre – der Großbanken, Versicherungskonzerne und Kapitalbeteiligungsgesellschaften. Asymmetrisch sind die Machtverhältnisse des mit unbegrenzter Geld- und Kreditschöpfungsmacht ausgestatteten Bankensystems sowie derjenigen, die über eine überdurchschnittliche Kaufkraft und hohes Leistungsvermögen verfügen.

Die Sprache der Solidarität klingt anders. Sie beruht auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit, der wechselseitigen Anerkennung gleicher Menschenrechte. Solidarität heißt: Einstehen füreinander – insbesondere der Starken für die Schwachen. Die Beziehung ist zwar wechselseitig, aber asymmetrisch: Die Beiträge werden erhoben gemäß der Leistungsfähigkeit, die Hilfe wird gewährt gemäß dem Bedarf.

(2) Die europäische Verschuldungskrise fällt nicht vom Himmel. 1983 wurden 40 Entwicklungs- und Schwellenländer zahlungsunfähig. Brasilien stellte die Zinszahlungen an die Gläubiger ein. 2001 traf Argentinien die gleiche Entscheidung. Wie reagierten darauf die internationalen Finanzakteure? Das Krisenmanagement bestand darin, dass Umschuldungsverträge vereinbart wurden: Die Schuldnerländer – außer Brasilien und Argentinien – verzichteten auf eine formelle Erklärung der Zahlungsunfähigkeit. Dann gewährten die privaten Banken ihnen kurzfristige Überbrückungskredite. Anschließend wurden die langfristigen Verbindlichkeiten umgeschuldet, die Rückzahlungsfristen verlängert und frisches Geld zugesagt. Den IWF schaltete man ein, um die Kreditwürdigkeit der Schuldnerländer zu garantieren sowie zusätzliche öffentliche und private Kredite zu mobilisieren. Gleichzeitig wurden harte und sehr umstrittene Strukturanpassungen erzwungen, die breite Bevölkerungsgruppen in die Armut getrieben haben.

Die Vorschläge einer langfristig angelegten Krisenbewältigung enthielten damals mehrere Komponenten: erstens ein internationales Insolvenzrecht, das die Folgelasten auf Gläubiger und Schuldner fair verteilt, zweitens eine öffentliche Schuldendienstbehörde, die den Privatbanken ihre Forderungen mit einem Abschlag gegen öffentliche langfristige Schuldscheine abkauft und die Umschuldungen vornimmt, drittens eine konzertierte Aktion von IWF, Weltbank, regionalen Entwicklungsbanken und privaten Finanzinstituten, um den verschuldeten Staaten wachstumsfördernde Kredite zu erschließen, viertens das Angebot des IWF, den privaten Banken zusätzliche Finanzmittel bereitzustellen, damit sie in Verhandlungen mit den Ländern einen freiwilligen Schuldenabbau beschleunigen, und fünftens einen endgültigen Schuldenerlass.

(3) Eine zweite Alternative, um die Schuldenkrise europäischer Staaten zu bewältigen, liegt näher. Diese lässt sich an der Frage veranschaulichen: Wie würde eine nationale Regierung eines föderalen Staates reagieren, wenn eines ihrer Länder in den Verdächt gerät, zahlungsunfähig zu sein? In der föderalen Bundesrepublik gehört der Begriff der gleichwertigen bzw. einheitlichen Lebensverhältnisse zum zentralen Leitbild eines Sozialstaats, der den regionalen Fliehkräften entgegen steuert und für die Teilräume eine konvergente Entwicklung der Daseinsvorsorge, der Einkommen und Erwerbsmöglichkeiten anstrebt. Dazu verfügt der Bund über eine spezifische Gesetzgebungskompetenz, die einen horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern und ergänzende Zuweisungen des Bundes an finanzschwache Länder sicherstellt.

(4) Welche Schlussfolgerungen sind aus der Architektur einer solchen solidarischen Transferunion zu ziehen, um die aktuelle europäische Verschuldungskrise langfristig zu bewältigen? Erstens die Anerkennung, dass Europa kein reines Finanzprodukt ist, sondern ein politisches Projekt im Dienst der Menschen vom Atlantik bis zur Wolga. Zweitens die Beseitigung des fundamentalen Konstruktionsfehlers der Währungsunion, ausschließlich auf zwei monetäre Stellgrößen fixiert zu sein, nämlich die Stabilität des Güterpreisniveaus und den Ausgleich der öffentlichen Haushalte. Drittens die zentrale Aufsicht und Koordination einer ergänzende Wachstums-, Beschäftigungs-, Einkommenspolitik der europäischen Staaten einschließlich einer realwirtschaftlichen Investitionsoffensive und verbindlicher sozialstaatlicher Transfers. Viertens die Errichtung eines vom IWF relativ unabhängigen Europäischen Währungsfonds, der mit der Europäischen Zentralbank abgestimmt als Kreditgeber der letzten Instanz berechtigt ist, Euro-Anleihen aufzulegen. Fünftens die zinslose Kreditgewährung der EZB an die Mitgliedstaaten, damit sie unter strengen Auflagen die Bereitstellung öffentlicher Güter finanzieren können, ohne sich bei profitorientierten Privatbanken verschulden zu müssen. Sechstens der Abschied von jenen fossilen marktradikalen wirtschaftsliberalen Optionen wie gehärtetem Stabilitätspakt, „Euro Plus-Pakt“, Schuldenbremse, rigorosen Spardiktaten, und Privatisierungsattacken zu Lasten der Schwachen. Und schließlich siebtens eine robuste Selbstbehauptung staatlicher Entscheidungsträger, die das stimmungs-geladene Fieber der angeblich informationseffizienten Finanzmärkte und das Drohpotential der in ihrem Interesse agierenden Rating-Agenturen an sich vorbeirauschen lassen. Denn diese kennen keine andere Logik als die der Gläübiger-Schuldner-Beziehungen.

(5) Wo liegen die drohenden Abgründe einer solchen europäischen Architektur? In der schwelenden Rivalität souveräner Staaten, mächtiger privater und öffentlicher Interessen, legislativer, exekutiver und judikativer Staatsorgane sowie europäischer Institutionen und schließlich der EZB und der europäischen Regierungen.

(6) Wird ausschließlich auf die Stimme des Marktes gehört, wird Europa nur wenigen gehören. Werden die Märkte in eine Stimme der Solidarität eingebettet, wird es ein Europa für alle geben. ... "

Der Vortrag wurde am 21. Juni 2011 bei der Gemeinschaftsveranstaltung der Deutschen Politischen Stiftungen in Tervueren gehalten.

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