Über die Proteste für soziale Gerechtigkeit in Israel

19.09.2011

Die Feministin und Friedensaktivistin Dr. Ruchama Marton, Gründerin und Vorsitzende von Physicians of Human Rights-Israel, berichtet in diesem Interview über die Demonstrationen in Israel seit Juli 2011, die Verbreitung der Bewegung, die Reaktion der Medien, die Reaktionen der Regierung, und die Einberufung von 1000 runden Tischen. Sie beschreibt eine soziale Bewegung mit neuen Forderungen und neuen Formen der Organisation und Entscheidungsfindung.

Was war nach ihrer Ansicht der Ansatzpunkt für diese große soziale Bewegung in Israel?

Es ist folgendes passiert: eine junge Frau namens Daphnie Liff wurde aus ihrer Wohnung im Tel Aviv rausgeschmissen und sie entschloss sich, ein Zelt in der Rothschild-Boulevard, einem sehr schicken Teil der Stadt, aufzustellen. Sie hat nicht viel weiter gedacht und hat auch nichts Weiteres geplant. Sie war einfach verzweifelt sie wollte persönlich was ändern und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es ist wahrscheinlich zur richtigen Zeit geschehen, gesellschaftsmäßig.

Die Organisation Ärzte für Menschenrechte, die ich vor 24 Jahren ins Leben gerufen habe, ist mehr oder weniger mit der gleichen Dynamik gestartet: ich bin ohne jeden Plan nach Gaza. Ich wusste nicht, was da passieren würde, dass die kleine Gruppe von Leuten die zusammen mit mir dorthin gegangen sind, zusammenbleiben würde und dass es sich zu so einer Bewegung entwickeln würde. Stellen Sie sich vor! Dass sich eine lebensfähige und nützliche Organisation auf dieser Weise entwickeln würde. Es war also so, dass die Daphnie zur richtigen Zeit rausgegangen ist – die richtige Zeit für viele junge Leute in Israel, die so sind, wie sie.

Wie hat sich das dann vergrößert?

Sie hat Freunde, es ist Sommer alle sind draußen. Einige haben ihren Zelt gesehen. In der Urlaubszeit, gibt es viele junge Leute, Studenten, die ihre Wohnung für 2-3 Monate verlassen, die sie während der Studienzeit gemietet haben, und dann suchen Sie sich für das nächste Semester eine neue, weil sie sich die Miete in der Urlaubszeit nicht leisten können weil sie so hoch ist. Für eine bescheidene Wohnung in Tel Aviv muss man zum Beispiel soviel zahlen, wie etwa ein Monatsgehalt. Man muss auch noch was essen, ausgehen und andere Kosten bestreiten. Daher müssen diese jungen Leute sich entscheiden, wofür sie ihr Geld ausgeben wollen. Und es hat so viele Leute in der gleichen Situation getroffen.

Hat Sie auch die sozialen Netzwerke benutzt, etwa Facebook oder Twitter?

Ja, natürlich! Hätten sie gewartet, bis die herkömmlichen Medien die Informationen verbreitet hätten, dann säßen sie noch ewig alleine da. Es hat zauberhaft funktioniert. Von jetzt auf gleich wussten Tausende, was lief, und schlossen sich an. Und dann sprang das auf andere Städte über. Nicht sofort. Zunächst haben die herkömmlichen Medien sie wie Dreck behandelt. Herabblickend: „Wer seid ihr denn überhaupt?“ Zuerst hieß es: „Naja, das sind ja Linke,“ was in Israel eine sehr herabwürdigende Darstellung von Menschen ist. Oder: „Das sind verwöhnte Kinder, die immer mehr wollen“. Oder: „Die wollen ja nicht arbeiten, oder in die Randgebiete ziehen.“ Das ist ja alles Blödsinn. Die meisten dieser jungen Leute studieren oder arbeiten in Tel Aviv, dem wichtigsten Ort in Israel. Was sollen sie in den Randgebieten? Für diese jungen Leute sind die Randgebiete die Wüste.

Wie ist das dann von Tel Aviv in die anderen Teile des Landes übergesprungen?

Genauso, über die sozialen Netzwerke, und weil in den anderen Städten die genau gleiche Situation herrscht. Und dann haben andere, aus den Mittelschichten und auch richtige Obdachlose, die keine Studenten sind, sozial schwache, ihr eigenes Ding durchgezogen. Die richtig armen Leute sind nicht zur Rothschild-Boulevard gegangen. Die blieben bei sich, im Lewinsky-Armenviertel, wo sie wohnen, Flüchtlinge, Wanderarbeiter, illegale alleinerziehende Eltern einem, zwei, drei Kindern. Die sind nicht zur Rothschild hin. Die sind da geblieben, wo sie sind. Und dann ist das alles passiert: die herkömmlichen Medien haben ihre Haltung geändert. Sie fingen an, sie fürs Fernsehen zu interviewen.

Warum?

Sie haben gemerkt, auf welcher Seite die Stulle geschmiert ist [hebr. Ausdruck, dt. etwa „ran an den Speck“]. Da wo sie geschmiert ist, da wollten sie auch hin. Damit ändert sich die Haltung der Medien nach der ersten Demonstration. Das geschah zwei Wochen später, als 15.000 Menschen in Tel Aviv auf den Straßen waren – das ist für die Linke eine ganze Menge. Und dann dreimal so viele. Da war was richtig Großes los. Und dann waren es landesweit eine halbe Million Menschen. Und das in einem Land von 7 Millionen, wobei 20 % Palästinenser sind, die nicht wirklich teilgenommen haben. D.h. der Kern der Gesellschaft, die aktiven Leute, waren da, man kann die Teilnahme auf etwa dreimal so viel einschätzen.

Können Sie etwas über die Reaktion der Regierung sagen?

Wir haben eine so tolle Regierung! Ich liebe sie! Sie enttäuschen mich nie. Man kann sich wirklich auf die verlassen. Immer und immer wieder wiederholten sie, was die Medien am Anfang gesagt hatten: „Ihr seid Extremisten, ihr seid Linke. Ihr wollt nur den Bibi (Benjamin Netanjahu) madig machen. Die Linken haben euch vor ihre Karre gespannt. Ihr seid naiv. Ihr werdet von den Linken ausgenutzt. Ihr solltet in die Randgebiete ziehen und mal richtig hart arbeiten.“ Und dann, nach der großen Demonstration, änderte sich der Tenor. Sie fingen an, leerer Versprechungen auszurollen: Wir machen dies, wir machen jenes. Aber die Leute, die meisten Leute, sind nicht so blöd. Lange haben sie sich so verhalten, als wären sie blöd, aber sie sind es nicht.

Wieso verhalten sie sich, als wären sie blöd?

Ein Kollektiv ist kein Monolith. Man kann gleichzeitig sehr intelligent und sehr dumm sein. Die israelischen Regierungen, nicht nur Bibi, sondern alle, benutzen die Berohungen auf sehr hohem Niveau. Da sind sie wirklich gut. Da verstehen sie, wie man das macht. Immer mal wieder entsteht eine neue schreckliche katastrophale Bedrohung. Sie halten die Leute in Angst, furchtsam, und es funktioniert.

Wegen der Bedrohung von außen?

Nicht nur. Es ist auch egal, Hauptsache, die Leute fühlen sich bedroht. Die Palästinenser sind als Bedrohung immer da. Manchmal wechselt sich das ab, erst die Iraker, dann die Iraner; mit der Wirklichkeit hat es nichts zu tun. Es geht darum, die Leute in Angst zu halten, weil Menschen in einem solchen Zustand leichter zu beherrschen sind wie Kinder, wollen sie von einem großen starken Mann und nicht von einer Frau gerettet werden. Und das ist der Ministerpräsident oder der Verteidigungsminister. Die sind immer da, und die sind da, um dir zu sagen, was du senken sollst, was du sagen sollst und was du tun und lassen sollst. Und dann gibt es eine Veränderung, aber sie wollen den Leuten immer noch Angst machen. „Ihr führt Israel in die Wirtschaftskatastrophe, wie Griechenland oder Spanien.“ Doch die Leute nehmen das denen immer weniger ab. Daher ist eigentlich etwas sehr wichtiges passiert.

Hat das, was um Israel herum passiert ist, der arabische Frühling, diese Veränderung beeinflusst?

Besonders Ägypten. Der Tahrir-Platz hat auf sehr vielen Ebenen einen großen Einfluss gehabt. Als das auf dem Tahrir-Platz losging, bin ich, wie gewöhnlich, am Sonnabend ins Westjordanland gefahren. Ich war in Dschenin, glaube ich. Ich habe mit den Leuten geredet. Ich habe gefragt: „Was denkt ihr über den Tahrir-Platz?“ Meine unausgesprochene Frage war eigentlich: „Was wollt ihr tun? Wo ist euer Tahrir-Platz?“ Verschiedene Leute gaben mir auch verschiedene Antworten, etwa: „Wir sind die fünfte Revolution, nach Tunesien, Bahrain, Ägypten und Libyen“. Sie sind es zwar nicht, aber das war wirklich Ihre Antwort. In Israel hat man sich das anders durchdekliniert. Dennoch hat das, was in Ägypten passiert ist, einen sehr großen Einfluss gehabt: die Israelis haben stundenlang ferngesehen. Und etwas hat sich bewegt. Wenn ein gewaltfreier Protest – auch wenn er in Gewalt umschlug – für einen Regierungswechsel erfolgreich sein kann, wenn die in die Ägypter das können, wieso nicht wir?

So bildet die Regierung ein Arbeitskreis?

Das mussten sie. Nach all diesen leeren Versprechungen, die jeder als leer erkannte, schlugen sie, wie gewöhnlich vor, ein Arbeitskreis zu bilden. Normalerweise, wenn man etwas zuschütten will, bildet man ein Arbeitskreis. Der Trajtenberg, der Vorsitzende dieses Gremiums, ist ein anständiger Mensch, Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Tel Aviver Uni. Der ist kein verrückter Rechter. Aber sie haben ihm Handschellen angelegt. Sie haben ihm deutlich gemacht, dass es keine Revision des Staatshaushalts geben könne, er hat keine Macht erhalten.

Daher hat die Daphnie, diese kluge junge Frau, gesagt: „Ich rede nicht mit dem Trajtenberg-Gremium. Das ist nur ein Bluff. Ich rede mit ihnen, Professor Trajtenberg: Sie sollten sofort zurücktreten. Denn sie beteiligen sich an einem System, an einer großen Lüge.“ Und der andere Führer der Demonstration, ein Mann namens Itzig Schmuli, der Leiter der Studentenorganisationen, sagte „ja“. Der ist kein revolutionärer Mensch. Er sagte „ja“, und sie sagte „nein“. Und die herkömmlichen Medien stürzten sich gleich auf sie: „Sie haben keine Erfahrung, sie verstehen nichts von Politik, sie verstehen gar nichts.“ Ihr war es egal, und um ihr herum gab es Leute, die sie sehr unterstützt haben. Die Demonstranten stellten ihr eigenes Gremium auf, mit eigenen Professoren, die auch nicht schlechter sind, als Trajtenberg, vielleicht sogar besser, um gemeinsam zu überlegen, wie das System geändert werden könnte, nicht wie Trajtenberg, der an einer Liste von Forderungen für die Regierung arbeitet. Die Daphnie und ihre Leute sagen, „Wir erstellen keine Liste. Wir wollen keine kleinen Veränderungen. Wir wollen das System ändern.“

Was läuft zur Zeit?

Das Trajtenberg-Gremium muss jetzt ihre Ergebnisse vorlegen, bis Ende September. Das andere Gremium arbeitet mit den Demonstranten. Es ist ein sehr dynamischer Prozess. Die Menschen wählen Vertreter/innen in 18 verschiedenen Orten im ganzen Land. Sie versammeln sich, um die anstehenden Fragen zu diskutieren, weil die Leute nach der großen Demonstration verstanden haben, dass sie nicht einfach immer größere und immer größere Demonstrationen machen konnten. Sie wussten, dass sie andere Sachen machen mussten, wenn das etwas bringen sollte. Wenn es jemand auf die Idee gekommen, Diskussionskreise vorzuschlagen.

Ich bin mehrmals in den Lewinsky-Kiez gegangen. Dort herrscht extreme Armut. Dort hat man nicht einmal Tische und Stühle. Wir saßen auf dem Boden. Die Leute da haben ganz besondere Probleme: die Gewalt, Männer, die Frauen belästigen, wie man eine Volksküche verwalten soll, usw. Die Diskussionen liefen stundenlang in diesen Kreisen, erst in kleineren Kreisen und dann in größeren.

Es ging darum, im ganzen Land 1000 runde Tische aufzustellen, ähnlich wie die Kreise in den Demonstrationszelten. Dabei gibt es einen Vorsitzenden und einen Schriftführer. Die Führung erhielten die gleichen Anweisungen, wie die Rundentische zu führen seien. Es lief sehr gut, alle Ideen wurden gesammelt, damit der Hauptausschuss sie kohärent und strukturiert ordnen konnte. Dieses Material ging dann an das alternative Gremium.

Was sagen die Siedler?

Die Siedler gar sagen gar nichts, sie sind gar nicht da. Am Anfang haben sie es versucht. Sie waren aggressiv und haben aber schnell verstanden, dass sie da nicht hingehört. Dann waren sie weg.

Und die Religiösen?

Die Religiösen nehmen nicht teil. Einige nicht ganz so religiöse Leute sind da, doch im Wesentlichen ist das eine säkulare Bewegung. Die Palästinenser kamen später dazu. Ich ging nach Qalansuwa im Dreiecksgebiet [ein Gebiet Nahe Haifa, das von israelischen Palästinensern bewohnt ist], und sie hatten ihr eigenes Zelt, ein riesiges.

In vielen Kreisen gibt es eine große Angst, mit dem palästinensischen Konflikt identifiziert zu werden. Die erste Tendenz der Demonstranten war eine Art Reaktion auf das anklagende Zeigefinger der Regierung: „Ihr seid Linke!“ In einem dieser langen Artikel in der Presse, gab es eine Erklärung dafür, dass die Demonstranten ausgerichtet in der Rothschild-Boulevard ihre Zelte aufgeschlagen hatten: es kreuze die Schinkin-Straße, die „linke“ Straße Tel Avivs, dort befinde sich das Büro der Kommunistischen Partei, das sei der Hauptgrund dafür, dass sie diesen Ort gewählt hätten. Solche Argumente waren in den ersten Tagen sehr wirkungsvoll. Die Zeltbewegung war also von Anfang an sowohl persönlich als auch kollektive in der Defensive.
Das ist die eine Seite. Vielleicht ist es nicht das ganze Bild. Es gibt viele Gründe für dieses Phänomen. Die jüdische Mittelschicht in Israel hat eine ganz lange Tradition, eine verinnerlichte Tradition, das, was in dem palästinensischen besetzten Gebieten vor sich geht, zu ignorieren, es ganz aktiv nicht zu wissen. Ihnen fehlen psychologischen Mittel, um mit diesen Tatsachen klar zu kommen. Daher Ecken Menschen wie die von “Breaking the Silence” [„das Schweigen durchbrechen“, eine israelische NGO aus ehemaligen Soldaten, die über ihre Erfahrungen beim Militärdienst in den besetzten Gebieten erzählen] in der israelischen Gesellschaft so an. Sie sind auch nicht die einzigen.

Sie wollen das nicht sehen. Wir wollen es nicht wissen. Es ist zu beunruhigend. Und dass ist wohl ein weiterer Grund. Aber dann, drittens, war das zu viel, um im Rahmen einer einzigen Protestaktion verstehen zu können. Es war eigentlich eine ganz kleine persönliche Angelegenheit, die zu was Riesigem geworden ist. Aber Daphnie Liff ist ein politischer Mensch. Mit 18 hat sie einen Brief unterschrieben, in dem sie erklärt hat, dass sie nicht zur Armee wollte, eine der wenigen Jugendlichen, die sowas tun. Sie ist ein politischer Mensch. Sie ist zum Rothschild Boulevard gegangen, nicht um eine Lösung für die Besatzung zu finden, sondern weil sie ihr eigenes persönliches soziales Problem lösen wollte. Und nun, nach zwei Monaten, und hoffentlich in naher Zukunft, denn viele Menschen fangen an, die Zusammenhänge zu begreifen – es ist mehr als ein Zusammenhang, so eine Art Teufelskreis: Was machen wir in den besetzten palästinensischen Gebieten?, und die Verbindung ziehen zur Wirtschaftslage und zum ganzen System, mit dem Israel regiert wird, dieses ganz extreme kapitalistische System, wodurch so wenige Leute so reich werden und der Rest der Bevölkerung so arm. Ich habe vor mehr als zehn Jahren geschrieben, dass die Lücke zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen in Israel größer ist, als irgendwo anders in der westlichen Welt und zwar seit Jahren. Das ist nicht neu. Und die Menschen haben angefangen, es am eigenen Leib zu spüren und zum ersten Mal nicht mehr passiv zuzustimmen, mit dem was das Regime macht.
Dr. Ruchama Marton ist Gründerin und Vorsitzende der Organisationen Ärzte für Menschenrechte Israel. Die Organisationen erhielt 2010 den Alternativen Nobelpreis.

Dr. Ruchama Marton ist Gründerin und Vorsitzende der Organisation Physicians of Human Rights-Israel (PHR-Israel). Die Organisation wurde im Jahr 2011 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Ruchama Marton wird in der Konferenz zu Frieden und Versöhnung im November in Brüssel sein (siehe Link unten). Das Interview führte Simone Susskind, Präsidentin von Action in the Mediterranean (AIM) und Mitglied im International Women's Commission (IWC) am 16. September 2011 in Brüssel.


>>Zur Website der Konferenz zu Frieden und Versöhnung