Eine kurze Erzählung über Selbstverwaltung in Deutschland seit 1968

Essay in Vorbereitung des Seminars zu "Alternativer Ökonomie" in Palermo im Juni 2010

30.06.2010
Birgit Daiber

Es war einmal vor langer Zeit... als wir noch nicht in der Mediendemokratie lebten... als die BRD noch westdeutsch war und als konservativ noch wirklich konservativ meinte und sozialdemokratisch nicht mehr sozialistisch war und die kommunistische Partei verboten war... als die USA, die für die Nachkriegsgeneration in Westdeutschland das Vorbild für Demokratie und Freiheit waren, einen schmutzigen Krieg in Vietnam führten ...

In jener Zeit mischte eine kleine Minderheit von Studenten die Politik auf und es entstand eine Jugendbewegung, die Freiheit, Autonomie und antiautoritären Protest praktizierte und die Revolution probte.

Eine neue Linke entstand als außerparlamentarische Opposition. Diese neue Linke war keineswegs einheitlich, es gab Maoisten, Trotzkisten, Rot-Gardisten, strenge Leninisten, ja sogar Stalinisten, es gab den Kommunistischen Bund Westdeutschlands, der eine geordnete und hierarchische Mini-Partei der Revolution sein wollte, Anarchisten, die eine Stadtguerilla aufbauen wollten, und es gab die sogenannte undogmatische Linke, die so unterschiedlichen Gruppierungen wie das sozialistische Büro Offenbach, die Spontis in Frankfurt und den Kommunistischen Bund in Hamburg umfasste. Kommunen und in etwas weniger radikaler Form Wohngemeinschaften praktizierten den Aufstand gegen die bürgerliche Kleinfamilie, gegen die psychische Zurichtung auf Konkurrenz und Besitzgier und gegen Privateigentum.

Manche träumten davon, eine radikale linke Partei aufzubauen und begriffen sich als Avantgarde, manche fanden, dass alle Parteiformationen reaktionär und nur der revolutionäre Prozess selbst von Bedeutung war (die Subversive Aktion, Initial-Gruppierung der später entstehenden Studentenbewegung, hatte gar als Motto „der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern“). Die etwas sanftere Form war die Vorstellung, alles sei Bewegung – „anything goes“ - und jeder Einzelne in seinem/ihrem Freiheitswillen Subjekt der gesellschaftlichen Veränderung. Autonomie nicht nur als Begriff individueller Freiheit, sondern als politischer Begriff einer neuen kollektiven Strategie spielte in der undogmatischen Linken eine zentrale Rolle. Arbeiterautonomie, Autonomie von Minderheiten, Autonomie von Frauen, Autonomie von Schwulen und Lesben, Autonomie von Behinderten – der Begriff war weit interpretierbar. Es wurde davon ausgegangen, dass das ursprüngliche Subjekt der Revolution, die Arbeiterklasse, im entwickelten Kapitalismus integriert war und nur noch partielle systemkonforme Interessen vertreten konnte und dass nur noch einzelne Gruppierungen - die sog. Massenarbeiter und die technische Intelligenz zum Beispiel – ein Interesse an einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft entwickeln konnten. Das gesellschaftliche Subjekt der Veränderung der Gesellschaft im entwickelten Kapitalismus konstituierte sich deshalb anders als im 19. Jahrhundert. Der Kern des Autonomiebegriffs war die Auffassung, dass jede gesellschaftliche Gruppe, die unterdrückt wird, eigenständige – eben autonome – Kämpfe für ihre gesellschaftliche Emanzipation führen muss und dass dies nicht etwa eine Zersplitterung der revolutionären Bewegung ist, sondern dass die Vielfalt der Kämpfe notwendig ist, und dass in den Kämpfen um Emanzipation auch unmittelbar praktisch neue Lebensweisen und eine neue Kultur entstehen.

Dies war der Ausgangspunkt für die Emanzipationsbewegungen der ethnischen Minderheiten, der Schwulen und der Frauen. Dies war aber auch der Ausgangspunkt der selbstorganisierten Projekte und der selbstverwalteten Betriebe.

Während der Studentenbewegung stellte sich heraus, dass es viele wichtige Bücher auf dem deutschen Markt nicht gab. So fehlten z.B. die Texte der Frankfurter Schule oder die Schriften revolutionärer Marxisten und Syndikalisten fast ganz, von Marx gab es eine sehr teure Studienausgabe und die Grundrisse gab es überhaupt nicht. Die Studenten behalfen sich mit den blauen Bänden und suchten in den Bibliotheken von München bis Amsterdam nach alten Ausgaben der kostbaren Texte. Sie zögerten nicht, diese zu stehlen, wenn sie fündig wurden – um sie dann als hektographierte Raubdrucke zu zirkulieren. Das war der Beginn der linken Druckereien, Verlage und Buchhandlungen.

Bei der Lektüre insbesondere der Studien zum autoritären Charakter der Frankfurter Schule wurde begreifbar, dass Nationalsozialismus und Faschismus auch deshalb siegen konnten, weil es genügend Menschen gab, die in ihrer autoritären Persönlichkeitsstruktur soweit deformiert waren, dass sie sich bereitwillig der Gewaltherrschaft unterwarfen. Eine der Schlussfolgerungen war: Kinder sollten in Freiheit aufwachsen und lernen, sich gegen Herrschaftsformen zu widersetzen. Das war der Beginn der Kinderladen-Bewegung und der Versuche, Freiheit und Autonomie auch in der Erziehung von Kindern zu praktizieren. Und wieder fehlte es an Literatur: die frühen Texte zur Kinderpsychoanalyse fehlten ebenso wie theoretische Texte frühsozialistischer kommunistischer Erziehung. Auch hier wurden Raubdrucke zirkuliert...

Kinderladenbewegung, Kommunen, Musikprojekte wie „Ton, Steine Scherben“ und Wohngemeinschaften waren der sozio-kulturelle Zusammenhang der neuen Linken. Entgegen dem strengen Wort von Adorno „Es gibt kein wahres Leben im falschen“ und „Das Ganze ist das Unwahre“ versuchten sie zu beweisen, dass es möglich ist, sich selbst zu verändern, sich bürgerlicher Deformation zu verweigern, neue solidarische und emanzipatorische Lebens- und Arbeitsformen zu erproben und zugleich die Gesellschaft zu verändern. Ganz sicher war es dieser feste Glaube an die Möglichkeit, durch subjektives Handeln in allen Lebensbereichen die Gesellschaft grundlegend zu ändern, der kleine und große Berge zu versetzen vermochte. Aber die Revolution ging nicht so schnell voran, wie die Akteure sich das wünschten. Und so entstanden ganz naturwüchsig Projekte, die über den unmittelbaren sozio-kulturellen Lebenszusammenhang hinausgingen. „Zusammen leben und zusammen arbeiten“ war das Motto, unter dem viele neue Arbeitskollektive entstanden.

Es begann mit Raubdrucken wichtiger Texte – daraus entstanden Druckerei-Kollektive wie „Oktoberdruck“ und „Movimento“. Gleichzeitig entstanden linke und feministische Verlage, Buchhandlungen und auch Verlagsauslieferungen. Es folgten Naturkostläden, zu Anfang zumeist mit eher esoterischem Charakter - Landkommunen produzierten Marmelade und Käse und verkauften ihre Produkte auf Wochenmärkten - Ingenieurstudenten erprobten thermische Solaranlagen im Eigenbau, Permakultur und den Bau von Lehmöfen nach alten Vorlagen, Studenten der Luft- und Raumfahrttechnik entwickelten Windanlagen, in Berlin wurden besetzte Häuser in soziale Wohnprojekte umgewandelt, es gab sogar ein Kollektiv von Betonbauern, völlig unökologisch, aber sehr sozialistisch.

Neben produzierendem Kleingewerbe entwickelten sich insbesondere in feministischen Zusammenhängen viele Bildungs- und Sozialprojekte, die öffentlich gefördert wurden und sich schnell professionalisierten. Daneben entstanden Netzwerke, wie der Theorie-Arbeitskreis Alternative Ökonomie (TAK AÖ), die AG SPAK und die Monatszeitung „Contraste“. Auch andere linke und feministische Zeitschriften hatten Konjunktur und so wuchs die Idee einer eigenen linken Tageszeitung. Die TAZ ist auch heute aus dem Blätterwald nicht wegzudenken. Sie entstand aus ehrenamtlichen Kollektiven und aus zum Teil eindeutig anarchistischen Zusammenhängen – wie dem „Informationsdienst für unterdrückte Nachrichten“.

Die 1979 entstehenden Grünen nahmen einige der Forderungen der Alternativbewegung auf – Gleiche Beteiligung von Frauen und Männern, Basisdemokratie, keine persönliche Machtansammlung durch Rotation in Ämtern und Mandaten, Umverteilung von Geld – und verteidigten diese Prinzipien auch einige Zeit als Antiparteien-Partei.

Aber der Alternativbewegung ging auf dem langen Marsch in die Wirklichkeit der politische Charakter irgendwann verloren.

Was war passiert? Bereits Mitte der achtziger Jahre saßen die Initiatoren der Bewegung in ihren Vollversammlungen und Netzwerk-Seminaren und diskutierten nächtelang darüber, warum der politische Charakter der Bewegung immer mehr abnahm. „Wir leben und arbeiten zusammen – aber wir werden immer normaler und unterscheiden uns immer weniger von traditionellen Betrieben“. Und in der Tat: entweder die Projekte marginalisierten sich oder aber sie professionalisierten sich und wurden ziemlich normale Marktteilnehmer. Auch das Kollektiv-Leben wurde zunehmend anstrengend. Die Kommunarden verwandelten ihre Wohngemeinschaften in Gemeinschaftshäuser und -wohnungen oder zogen sich in die ehemals so verhasste Kleinfamilie zurück.

Also nochmals: was war passiert? Was war der politische Charakter der Bewegung? Mit dem gehörigen Abstand von fast vierzig Jahren finde ich – und dies ist wiederum vollkommen subjektiv – dass der politische Charakter der Alternativbewegung in der Provokation bestand. Kulturrevolution ist ein zu großes Wort dafür, aber die kulturelle Provokation war zu Beginn wirklich enorm und manchmal brauchte es wirklich keiner großen Taten, um die ordentliche Kleinbürgerwelt durcheinanderzuwirbeln – und ihre Aggression herauszufordern. Aber die Gesellschaft gewöhnte sich an die Provokation, und etliche der ungehörigen, unsäglichen Provokationen wurden einfach von der Mehrheitsgesellschaft übernommen: Es wurde Mainstream, offen über Sexualität zu reden, die Gleichberechtigung von Frau und Mann blieb nicht auf den berühmten Paragraphen im Grundgesetz beschränkt, Kinder wurden nicht mehr nur als Eigentum der Eltern gesehen, eher permissive Erziehungsstile wurden auch in den normalen Kindergärten eingeführt und so weiter. Kulturelle Provokation endet eben da, wo sie einfließt in die Normalität der Gesellschaft: oder, radikaler ausgedrückt, es ist ihr Erfolg, der Protestbewegungen überflüssig macht. Dabei bleiben allerdings radikalere Zielsetzungen auf der Strecke. Was einerseits bedeutet, dass Protestbewegungen sich immer wieder neu erfinden an spezifischen gesellschaftlichen Konfliktpunkten, dass sie aber – gerade wenn sie erfolgreich sind – auch immer wieder erodieren. An der Geschichte der emanzipatorisch-provokatorischen sozialen Bewegungen kann man übrigens auch etwas lernen über die Integrationsfähigkeit des Kapitalismus. Die Bewegungen verlieren dabei ihren eigenständigen politischen Charakter und werden Teil des sozio-kulturellen Mainstream. Wie das genau geschieht, kann man durchaus auch an der Geschichte der selbstverwalteten Betriebe ablesen.

Auch in den achtziger Jahren war die Alternativbewegung sehr lebendig, ja es kamen neue Projekte dazu: Die Finanzierungsnetzwerke „Netzwerk Selbsthilfe“ und „Goldrausch“ für Frauenprojekte wurden mit Spendengeldern gegründet, die Stiftung „Umverteilen“ sammelte Geld von linken Erben. Die Gelder wurden an politische Projekte als Zuschüsse, an Projekte und Betriebe als zinslose Darlehen vergeben – bzw. wurden für die Unterstützung von Dritte-Welt-Projekten genutzt. Anhand der Erfahrungen mit den Finanzierungsnetzwerken entwickelte sich die Idee, eine alternative Bank zu gründen. So entstand das Projekt der Öko-Bank in Frankfurt(M). Tatsächlich gelang es, das Kapital für die Gründung einer Genossenschaftsbank zu sammeln. Die Besonderheit der Bank bestand darin, dass die Kunden die Zinsen oder einen Teil der Zinsen auf ihre Einlagen für spezielle Fonds zur Verfügung stellten, mit denen zinsgünstige Darlehen an Projekte der Öko- und Alternativszene vergeben werden konnten. Bis in die neunziger Jahre hinein hatten die sog. „Turnschuh-Bänker“ eine erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit – weit über das tatsächliche Bankgeschäft hinaus. Schließlich aber musste die Bank aufgeben, weil es mit der Kreditrückzahlung nicht so gut klappte. Ihr Erbe übernahmen andere kleine ethische Banken.

Die linken und feministischen Finanzierungsnetzwerke in Berlin gibt es übrigens auch heute noch – stiller und kleiner, aber unermüdlich.

Die Entwicklung der Ökotechnik, insbesondere der Nutzung von Windkraft und Solarenergie geschah mitnichten bei Siemens oder RWE etc. – sie begann in den Instituten der Technischen Universitäten und in den selbstorganisierten studentischen Seminaren. Hier wurden die theoretischen Voraussetzungen der Thermodynamik und der Strömungstechnik in die Praxis umgesetzt beim Bau von Windkraft- und Solaranlagen - zunächst im manchmal durchaus dilettantischen Selbstversuch mit kleinen Anlagen, die dann in ihrer Wirkungskraft beobachtet und in ihrer Konstruktion nach und nach handwerklich perfektioniert wurden.

Aus den Seminaren entwickelten sich selbstverwaltete Ingenieur-Kollektive mit hohen politischen und sozialen Ansprüchen, die die Techniken weiterentwickelten, viel Zeit und Geld investierten und große Mühe hatten, überhaupt einen Marktzugang jenseits der Begeisterung der (marktfernen) alternativen Szene zu finden. Thermische Solaranlagen, Wärmedämmung am Bau, Photovoltaik und Windkraftmaschinen – der inzwischen äußerst erfolgreiche Markt der Ökotechnik – wären ohne die Pionierarbeit der alternativen Projekte nie oder erst viel später entwickelt worden. Die Pioniere selbst sind heute manchmal in den Chefetagen großer Ökotechnikbetriebe zu finden – oder aber sie sitzen nach wie vor in ihren kleinen Werkstätten und tüfteln an neuen Ideen.

Auch bei den Naturkostläden fand eine ähnliche Entwicklung statt: Die Pioniere blieben zurück, gaben auf (meistens weil die Mieten für die Läden zu teuer wurden) oder sie verblieben in ihren Nischen. Gleichzeitig entwickelte sich eine ganze Naturkost-Industrie bis hin zu bis zum Bio-Regal bei Aldi.
Eine eigene Entwicklung nahmen die Frauenprojekte und Frauenbetriebe. Die „neue“ Frauenbewegung entwickelte sich zunächst im Kampf gegen die Kriminalisierung von Abtreibung und gegen den § 218. Ab ungefähr 1973 begriffen sich die Akteurinnen als eigene, feministische Bewegung. In vielen Städten entstanden Frauenzentren. In den Frauenzentren fanden viele Debatten über Feminismus und Politik statt, es wurden Kampagnen und Aktionen geplant und es wurde Beratung zu Schwangerschaftsabbrüchen gemacht – was illegal war und was erheblicher logistischer Anstrengungen bedurfte.

Selbsthilfeprojekte gegen Gewalt gegen Frauen und Kinder und Nottelefone wiederum waren der Beginn der Frauenhausbewegung, die relativ schnell institutionalisiert wurde.

Viele Projekte, die aus der Selbsthilfe für selbstbestimmte Sexualität und Gesundheit und gegen Gewalt entstanden, professionalisierten sich und wurden später öffentlich gefördert. Es gibt sie heute noch, z.B. als kommunale Beratungsstellen.

In selbstorganisierten Frauenseminaren an den Hochschulen wurde die Praxis reflektiert und feministische Theorie entwickelt. Gender-Studies wurden bald institutionalisiert. Trotz aller Schwierigkeiten, sich im Wissenschaftsbetrieb zu etablieren wuchs eine Generation von feministischen Wissenschaftlerinnen heran die sich Zugang zum Hochschulbetrieb verschafften. Es wurde viel publiziert – und was lag da näher, als eigene feministische Verlage zu gründen? Gleichzeitig entstanden zumindest in allen Universitätsstädten Frauenbuchläden, die kollektiv geführt wurden und wichtige Anlaufstellen für Informationen über die Frauenszene waren. Ich glaube es gab nichts, was es nicht gab in der feministischen Szene: Bars, Autowerkstätten, Reisebüros, Architektinnen- und Stadtplanerinnen-Büros, Gartenbau- und Ökotechnikbetriebe, Galerien, Künstlerinnenprojekte, Anwältinnenkollektive – schließlich auch professionelle Existenzgründungsberatung und vernetzte Gewerbehöfe, in denen Frauenbetriebe und Projekte vielfältige und einander ergänzende Dienstleistungen anboten. In Westberlin gab es zudem das Frauenfinanzierungsnetzwerk „Goldrausch“, das Spendengelder sammelte und den Frauenbetrieben zinslose Darlehen gab, während politische Aktionen mit Zuschüssen unterstützt wurden.

Immerhin schaffte es die Frauenbewegung, dass Bildungs- und Sozialprojekte, die ausschließlich von Frauen organisiert wurden und die sich auch ausschließlich an Frauen wendeten, öffentlich gefördert wurden. Auch ist die Einführung von Gleichstellungsbeauftragen in Hochschulen und Verwaltungen durchaus ein Erfolg. Einen wirklichen Erfolg in der Abtreibungsfrage brachte allerdings erst die deutsche Einigung: weil die Politik befürchtete, die ostdeutschen Frauen könnten auf die Barrikaden gehen und es könne da zu einer Vereinigung der ganz anderen Art kommen, nämlich der Frauen West mit den Frauen Ost gegen das schöne Einheitsprojekt, wurde im Einigungsvertrag die Fristenregelung, um die die Frauenbewegung West seit Anfang der siebziger Jahre mit wenig Erfolg gekämpft hatte, festgeschrieben.

Überhaupt änderte sich auch für die Alternativ-Szene und die Frauenbewegung fast alles mit der deutschen Einigung. Zunächst schien es, als entstünde eine neue radikal-libertäre Bewegung. Da waren die Hausbesetzungsbewegung in Ostberlin und die bunte Republik Neustadt in Dresden - in der zusammenbrechenden DDR entstanden Freiheitsräume, die genutzt wurden und in denen sich Ost und West begegneten.

Aber nach wenigen Jahren, Mitte der neunziger Jahre, hatte die neue Ordnung den Osten fest im Griff und es verschwanden nicht nur die Freiheitsräume, die Existenzsorgen und die hohe Arbeitslosigkeit wirkten wohl gleichermaßen entmutigend. Die Projektelandschaft in Ost und West veränderte sich: Bildungsprojekte wurden zu Maßnahme-Trägern für die Beschäftigung und Qualifizierung von Arbeitslosen und Verbände der alternativen Wirtschaft wurden zu regionalen Dienstleistern für Arbeitslosenprojekte – dies betraf die Alternativprojekte ebenso wie die Frauenprojekte. Daneben entstand eine ehrenamtlich bzw. halb-professionell gesteuerte Armutsökonomie, etwa die Tauschringe, in denen Dienstleistungen und Produkte direkt ohne Geldkreislauf untereinander getauscht wurden, oder die sog. „Tafeln“, die kostenlos Lebensmittel an von Armut betroffene Menschen verteilten.

Ab Mitte der neunziger Jahre wurde die institutionelle öffentliche Förderung von Projekten empfindlich reduziert, was bedeutete, dass noch mehr Projekte versuchen mussten, als Maßnahme-Träger für Arbeitslose zu überleben. Diese Veränderungen hatten zweierlei Konsequenzen: Die Bedingungen der öffentlichen Finanzierung für Arbeitslosenprojekte gaben eine bürokratische Struktur der Verwaltung vor, die hierarchisch war und vor allen Dingen die Spaltung in „Betroffene“, also Teilnehmer von Maßnahmen auf der einen, Funktionspersonal auf der anderen Seite bedeutete. Damit war es zu Ende mit der kooperativen und egalitären Struktur der Projekte. Dies konnte aber auch nur deshalb so geschehen, weil die Projekte schon so sehr am Tropf der öffentlichen Finanzierungen hingen, dass sie keine Kraft hatten, sich dieser Entwicklung zu widersetzen.

Damit wurde nebenbei auch der wirtschaftliche und Dienstleistungskreislauf der alternativen Szene zerstört: die Maßnahme-Träger kauften ihre Dienstleistungen und Produkte nicht mehr bei den alternativen Betrieben sondern auf dem allgemeinen Markt. Gleichzeitig fand eine Ausdifferenzierung statt zwischen denjenigen Betrieben, die sich zu profitablen Marktteilnehmern entwickelten (z.B. im Ökotechnik-Bereich) und denjenigen, die widerspenstig jenseits des Marktes überlebten. So sind es vor allem diejenigen Projekte wie Netzwerk Selbsthilfe und das Frauenfinanzierungsnetzwerk Goldrausch - von öffentlichen Finanzierungen unabhängig - die wenigstens auf der lokalen Ebene noch eine Rolle spielen.
Die Schlussfolgerungen aus dieser kurzen Geschichte der Selbstverwaltung sind ambivalent: als kultur-revolutionäre Bewegung begonnen, war sie als Provokation sehr erfolgreich, der Erfolg aber bedeutete Integration und Unterwerfung unter die kapitalistischen Marktprinzipien für diejenigen, die diesen Prinzipien folgen konnten. Andere – wie der Großteil der Frauenbewegungs-Projekte, professionalisierten und institutionalisierten sich mit Dienstleistungen, die öffentlich gefördert wurden. Dieser Prozess war in dem Moment verhängnisvoll, in dem keine starke politische Bewegung existierte und die Projekte im Netz der institutionellen Abhängigkeit gefangen waren und so die Bedingungen insbesondere der Arbeitslosenverwaltung akzeptieren mussten um zu überleben. Dass Integration zu kapitalistischen Bedingungen immer ein permanenter Kampf um die Durchsetzung von Verbesserungen und dann der Kampf um die Erhaltung dieser Verbesserungen ist, wissen von den Gewerkschaften bis zu den Frauenprojekten alle, die sich auf diesen Weg begeben. Dass es keine Alternative zu Integrationsprozessen gibt, wenn sie nicht von politischen Bewegungen eingefordert werden, wissen wir auch. Insofern ist die Geschichte offen und bleibt es.

Es wäre auch einer tieferen Untersuchung wert, inwieweit Alternativ- und Protestbewegungen Innovationsschübe für das kapitalistische System sind. Klar ist, dass beispielsweise der Markt der Ökotechnik und der Energiesparmaßnahmen sich nur entwickeln konnte, weil die Alternativ-Bewegung initiativ war. Hier entstanden in den kleinen Kollektiven für Ingenieurleistungen und in handwerklichen Produktionswerkstätten die Techniken der regenerativen Energienutzung – gleichzeitig war die Alternativ-Szene der Test-Markt für diese Produkte. Nichts wurde hier von den großen Unternehmen entwickelt, im Gegenteil. Lange Zeit bekämpften sie diese Entwicklungen. Erst als sich – unter anderem durch die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen durch die Grünen – ein Markt abzeichnete, sind sie eingestiegen. Der Mythos, die großen Unternehmen seien Innovationsmotoren, hat oft in der Geschichte nicht gestimmt und wurde auch in diesem Fall widerlegt.

Es gibt immer noch viele Alternativ- und Frauenprojekte, die recht erfolgreich arbeiten, aber sie haben nur noch marginale politische Bedeutung. Was jedoch schwerer wiegt: die Bewegungen haben es nicht geschafft, ihre Erfahrungen zu generieren oder sie gar ins Gedächtnis der Gesellschaft einzuschreiben. Die verbandsähnlichen Netzwerke sind zu klein, um so etwas leisten zu können. Als die Grünen Regierungsmacht eroberten, hatten sie die Alternativ-Bewegung schon längst vergessen und warfen z.B. die Konzepte für eine neue Rechtsform wirtschaftsdemokratischer Betriebe schnell in die Tonne, weil sie ihnen irrelevant erschienen. Was den Genossenschaften immerhin auch in mageren Zeiten gelang, nämlich als eigenständige und anerkannte Wirtschaftsform zu überleben, hat die Selbstverwaltungsszene nicht geschafft. Und das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und der Alternativ-Szene war sowieso immer von einem gegenseitigen „igitt!“ geprägt.

So What?

Nehmen wir einmal an, die Alternativszene sei ein gesellschaftliches Experimentierfeld gewesen und wir könnten daraus durchaus etwas lernen:
In der langweilig gewordenen politischen Landschaft, in der es zwischen den sich immer wieder an aktuellen Problemen formierenden reinen Protestbewegungen und den sehr klassisch hierarchisch funktionierenden politischen Parteien, auch der Linken, wenig gesellschaftlich sichtbare Projekte mit real-utopischer Qualität gibt, verweist die Geschichte der Alternativbewegung auf die Möglichkeit der Realisierung egalitärer und autonomer politischer Aktionsformen.

Die Alternativ- und Frauenbewegung hat ihre theoretischen Grundlagen vor allem in selbstorganisierten studentischen Seminaren entwickelt – also in der Gestaltung von Freiheitsräumen an Hochschulen, die in den verschulten Studiengängen von heute undenkbar geworden sind. Freiheitsräume sind die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Ideen und Strategien. Dass es diese Freiheitsräume einmal an den Hochschulen gab, war das Verdienst der Studentenbewegung. Also: Auch Freiheitsräume werden einem nicht vom System geschenkt: sie müssen immer wieder neu erobert werden.

Die Erfahrungen der alternativen Kreislaufwirtschaft und ihrer Solidaritätsnetze – auch in Bezug auf Produzenten/ Konsumenten/ Nutzerbeziehungen - sollten genauer untersucht werden. Hier sind überraschende Erkenntnisse zu erwarten, die beim Aufbau neuer solidarischer Wirtschaftskreisläufe von Nutzen sind. Es ist an der Zeit, neue solidarische Organisationsformen und Strategien zu realisieren, die eine gemeinsame Interessenvertretung, gemeinsame Risikosicherungsnetze, die Garantie der Gleichstellung etwa im Bereich von Arbeitnehmerrechten sowie die Durchsetzung ethischer, sozialer und ökologischer Rahmenbedingungen zum Inhalt haben. Warum? Unter den Bedingungen der Prekarisierung der Lebensverhältnisse nehmen Schwarzarbeit, ungesicherte Arbeitsverhältnisse, Kleinstunternehmungen immer mehr zu. Gleichzeitig ist der Konkurrenzdruck zwischen den Akteuren im prekarisierten Markt ungeheuer hoch.

Der Aufbau einer Praxis der Solidarität erscheint dringend notwendig. Neue Organisationsformen und neue Solidaritätsnetze sind vorstellbar – dabei können die Lehren aus der Geschichte der Selbstverwaltung helfen: Es braucht den politischen Kontext – hier ist die Linke dringend gefragt – und es braucht die Kooperation mit anderen sozialen Bewegungen, auch mit den Gewerkschaften, die sich – durch die Wirtschaftskrise provoziert - momentan neuen Formen der Wirtschaftsdemokratie annähert.

See also:

>> Publikation "Solidarische Ökonomie"
>> Alternative Ökonomie: Website des Seminars