Für eine neue globale Solidarität: Brüsseler Perspektiven

15.04.2010
Hg. RLS Brüssel, Januar 2010

Hg. RLS Brüssel, Januar 2010, 90 Seiten (in zehn Sprachen)

Deklaration der Konferenz "Beyond the World Crisis" in Brüssel im Oktober 2009

Inhalt der Broschüre:

* Konferenzbericht
* Konferenzdeklaration (English, Spanish, French, German, Italian, Portuguese, Russian, Chinese, Arabic und Hindi)
* Synopse der Thesenpapiere der Konferenz

Konferenzdeklaration:
Für eine neue globale Solidarität - Brüsseler Perspektiven

Wir, die Unterzeichner dieser Erklärung – Intellektuelle und Aktivisten aus dem globalen Süden wie dem globalen Norden –, haben uns in einer historischen Umbruchphase, inmitten einer beispiellosen Krise in Brüssel versammelt. Die nationalen Regierungen sind dabei, den Kapitalismus zu retten und den Neoliberalismus zu restaurieren. Für radikale Interventionen ist es dennoch nicht zu spät. Wir setzen uns für neue Paradigmen der sozialen Beziehungen ebenso wie der Beziehung zur Natur ein und schlagen Elemente für alternative Systeme auf allen Ebenen vor, die auf einer neuen globalen Solidarität fußen. Im Vordergrund müssen die Bedürfnisse der Menschen stehen – und daher gilt es, wachsende Armut und Verelendung zu bekämpfen, den Finanzsektor einzuhegen und massiv zu kontrollieren sowie sich für Klimagerechtigkeit, die Wiederaneignung der gemeinschaftlichen Güter der Menschheit und das Ende aller Kriege einzusetzen. Lassen wir die Menschen entscheiden. Die Verzahnung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Krisen ist strukturell bedingt. Unser Handeln ist dringend erforderlich.

Sie sagen, die Krise sei vorbei. Falsch. Die Welt steht mitten in einem Umbruch historischen Ausmaßes. Die Verlautbarungen der G-20, der EU und teilweise auch der UNO hören sich freilich so an, als gehe es nur um kleinere Neujustierungen des Systems. Tief greifende Veränderungen sind nicht in Sicht. Auf die Blase an den Finanzmärkten folgen politische Sprechblasen.

Die Eliten und globalen Institutionen sind bestrebt, die neoliberale Dominanz und die Logik des Krisenkapitalismus wiederherzustellen. Ja, sie tun das. Und angesichts der globalen Machtstrukturen müssen wir zugestehen: „Yes, they can“ – ja, sie können es auch.

Der globale Kapitalismus hat die Welt in eine schwere Krise gestürzt. Sie geht einher mit der andauernden Plünderung der Natur und der Energieressourcen des Planeten insbesondere im globalen Süden, dem drohenden Klimakollaps, mit Lebensmittelkrisen samt ihrer verheerenden Auswirkungen wie Hunger, Armut und Migration. Die Welt ist zudem mit wachsender sozialer Ungleichheit und zunehmender Klassenspaltung konfrontiert, mit der wachsenden Macht transnationaler Konzerne, mit Kriegen und einer Tendenz zu autoritären Lösungen. Die verschiedenen Ausprägungen der Krise sind Folge einer Logik, die Kapitalismus, Patriarchat, Imperialismus, (Neo-)Kolonialismus, Militarisierung und der Ausbeutung von Mensch und Natur entspringt. Diese Logik muss ersetzt werden – sonst drohen der Welt und der Menschheit weitere langwierige Konflikte.

Neue Paradigmen

Die Zeit für radikale Interventionen ist gekommen. Es gilt eine Vision zu entwerfen, in der konkrete Projekte des Wandels mit einer klaren Perspektive der Transformation hin zu solidarischen Gesellschaften verbunden werden. Die wichtigsten Ziele dabei sind die Rettung der Erde, das Ende von Kriegen, Hunger und Armut sowie soziale Gleichheit und volle Emanzipation.

Auf der ganzen Welt setzen viele soziale und politische Bewegungen sowie lokale Initiativen der neoliberalen Dominanz ihren Widerstand entgegen und lassen zugleich Ansätze für Alternativen erkennen. Die Hauptbedingungen für das künftige Zusammenleben sind: Vorrang für die Bedürfnisse jeder und jedes Einzelnen in einem von den Menschen gesteuerten Produktionsprozess; Abkehr von der ausbeuterischen Beziehung zur Natur hin zu ihrer Achtung als Quelle des Lebens; vollständige Demokratie in allen sozialen Beziehungen sowie politischen, ökonomischen und kulturellen Institutionen. Das schließt die Gleichheit von Frau und Mann in allen Bereichen der Gesellschaft ein. Schließlich: Ein Multikulturalismus, durch den alle Kulturen und Wissensformen zur Vision der Welt und zu einer Ethik beitragen können, die für eine Transformation nötig ist.

Der Kampf für Veränderung erfordert die weltweite Vernetzung und Stärkung sozialer und politischer Bewegungen. Seit dem Aufruf der Zapatistas und der Gründung der globalen Bewegung der Bewegungen in Seattle wächst Protest auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Allerdings ist er noch zersplittert. Dennoch gibt es ermutigende Beispiele: Bewegungen der Landlosen, Bauern sowie Arbeiterinnen und Arbeitern; Initiativen von Frauen, indigenen Völkern und Flüchtlingen; Bewegungen für soziale und Klimagerechtigkeit, sinnvolle Arbeit, die Rückzahlung der Schulden an den Süden, und nicht zuletzt: für den Frieden.

Alternativen

Konzentrieren wir uns auf die Bedürfnisse und die Hoffnungen der Menschen. Als erste Schritte fordern wir: Die sofortige und radikale Umverteilung privater Besitztümer an die Völker des Südens und die unteren Klassen weltweit sowie an den öffentlichen Sektor – 75% weniger Vermögen in den Händen der Reichen und der Superreichen! Wir werden nicht für die Krise bezahlen und die von ihr verursachten neuen Staatsschulden begleichen. Dieses Ziel ließe sich in ersten Schritten durch hohe Steuern auf Vermögen, Unternehmensgewinne, große Einkommen, Erbschaften sowie Finanz- und Währungsgeschäfte erreichen. Die Schulden des Südens – entstanden durch private Enteignung und koloniale Plünderung – müssen zurückgezahlt werden.

Unterstützen wir die Kämpfe der unteren Klassen. Die Ressourcen der Welt sollten in erster Linie für den Kampf gegen Hunger und Armut, als Wiedergutmachung für ausgebeutete Bodenschätze und zerstörte Lebensbedingungen sowie für die Finanzierung nachhaltiger Entwicklung eingesetzt werden. Investitionen in öffentliche Infrastruktur und Dienstleistungen müssen verstärkt, Löhne und Gehälter ebenso wie Investitionen in die soziale und ökologische Entwicklung den Vorrang vor dem shareholder value haben. Recht auf Arbeit und Recht auf Nahrung sind unabdingbar. Zugleich muss der öffentliche Beschäftigungssektor ausgebaut werden, um der zunehmenden Prekarisierung entgegenzuwirken. Das schließt den Ausbau von kollektiven und kooperativen Arbeitsformen ein, die nicht an die Erzeugung von Mehrwert orientiert sind, effizient zur menschlichen Entwicklung beitragen und menschliche Beziehungen bereichern.

Kontrolle und Rückbau des globalen Finanzsektors: 75 % runter, sofort! Wir fordern ein Verbot von „Giftpapieren“, Derivaten, Hedgefonds und Private Equity-Beteiligungsmodellen. Es darf keine weiteren Liberalisierungen geben – dafür schärfere Kontrollen des Banken-, Finanz- und Kapitalwesens sowie die Schließung der Steueroasen. Eine solidarische Weltwährung ist erforderlich und eine globale Finanz- und Handelsordnung, die Ungleichgewichte beseitigt, die nachhaltige Entwicklung fördert und soziale wie politische (Mindest)-Standards sichert. Investitionen an sich – und somit nicht nur die Banken – müssen vergesellschaftet und zur öffentlichen Aufgabe werden. Der Vorrang von Profiten vor Menschen würde umgekehrt.

Es bedarf dringend einschneidender Veränderungen in der Produktions- und Konsumweise sowie dem Verteilungssystem. Dazu ist unerlässlich: die Vergesellschaftung der Kernsektoren der Wirtschaft sowie der Bodenschätze; der umgehende Einstieg in eine radikale ökologische Umwälzung; höhere Güte und längere Lebensdauer von Produkten, um verschwenderischen Konsum zu verringern; das Ersetzen agrarindustrieller Monokulturen durch eine kooperative kleinbäuerliche Landwirtschaft. 75 % weniger Verbrauch von Energie und natürlichen Ressourcen, 75 % weniger umweltschädliche Emissionen. Klimagerechtigkeit jetzt!

Lassen wir die Menschen entscheiden. Die repräsentative parlamentarische Demokratie muss inhaltlich gefüllt werden. Zudem heißt es, eine sinnvolle partizipative Demokratie mit Entscheidungsmacht zu schaffen – mit bindenden Volksbefragungen, Planungsprozessen von unten, Räten und Bürgerhaushalten. Es bedarf der Demokratisierung der Wirtschaft jenseits der klassischen Mitbestimmung, mit echter Beteiligung von Arbeiterinnen und Arbeitern, Gewerkschaften, Verbrauchergruppen und anderen Betroffenen bei Unternehmensentscheidungen. Dies hätte Auswirkungen auf die gesamte transnationale Produktionskette. Das Ziel muss sein, die kapitalistischen Aufsichts- und Verwaltungsräte sowie Vorstände abzulösen durch kollektive Gremien, die eingebettet sind in Regional- und Kommunalräte.

Lasst uns das Gemeingut zurückholen! Der Grundbedarf muss aus gemeinschaftlichen Gütern gedeckt werden durch kostenlosen Zugang zu Land, Saatgut, Wasser und saubere Luft. Es dürfen keine weiteren Patente auf das Leben erteilt werden. Wissen, Technik und Forschung müssen ebenso Gemeingut werden wie der öffentliche Nahverkehr und der Zugang zu Gütern von allgemeinem Belang. Jeder Versuch, öffentliches Eigentum zu privatisieren, muss gestoppt und der Ausverkauf des öffentlichen Bereichs rückgängig gemacht werden. Es gilt, die Sozialversicherungssysteme zu verteidigen und auszubauen sowie konkrete politische Ansätze zu entwickeln, um dem Wohnraumbedarf im Süden wie im Norden zu decken.

Konzentrieren wir uns auf eine solidarische Versorgungswirtschaft, die Neuorientierung auf Gesundheit, Bildung und Ausbildung, Forschung, Lebensmittelsouveränität und Bodenreform, soziale Dienste, die Pflege von Kindern, Senioren und Kranken sowie unserer natürlichen Umwelt. Dies wäre auch ein Beitrag zu einer ökologischen Produktionsweise, zu emanzipatorischen Geschlechterbeziehungen sowie zur Entwicklung einer Praxis des Guten Lebens (bien vivir). Binnenmarktorientierung, Regionalisierung und ansatzweise auch Deglobalisierung stehen gegen das exportgetriebene, industrielle Wachstumsmodell, gegen Privatisierung und Verwertung, gegen zunehmende Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten in der Welt.

Wir fordern den Abzug aller Armeen des Westens und die Schließung aller ausländischen Militärstützpunkte. Die größte Verschwendung überhaupt sind die enormen Ausgaben für Waffen und Kriegsgerät. Die Militärausgaben weltweit müssen um mindestens 75 % sinken! Das Vetorecht im UNO-Sicherheitsrat ist ebenso abzuschaffen wie die NATO. Alle Kernwaffen müssen verboten werden.

Arbeitsprogramm

Wir haben an der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus mitgewirkt, haben die Krise vorhergesagt und zur Entzauberung des Neoliberalismus beigetragen. Aber es ist uns nicht gelungen, die herrschenden Machtstrukturen zu überwinden. Der neoliberale Kapitalismus verliert zwar inzwischen an Glaubwürdigkeit, aber er bleibt dominant.

Unser gemeinsames Ziel ist es, diese Dominanz zu brechen. Es gibt ein Zusammengehen der verschiedenen Kämpfe, eine intensive Kommunikation, Solidarität und Kooperation sowie Experimente mit konkreten Einstiegsprojekten. Wir unterstützen die diversen Kämpfe mit voller Kraft und bemühen uns um deren Vernetzung. Als Intellektuelle sind wir bestrebt, unseren Einschätzungen und Empfehlungen Kohärenz zu verleihen.

Dringende Aktionen sind nötig, damit sich die Krise nicht verschärft und sie nicht noch schlimmere Schäden anrichtet. Dazu zählen: die Beteiligung am Klima-Gegengipfel (Klimaforum) in Kopenhagen oder die Organisation dezentraler Aktionen für Klimagerechtigkeit; die Ablehnung von Marktmechanismen wie den Kohlenstoffhandel; die unmittelbare Transformation der Energiekette; die Ablehnung der Atomkraft; die Ablehnung weiterer Liberalisierungen; die Verhinderung der bevorstehenden WTO–Verhandlungen sowie der so genannten Wirtschaftlichen Partnerschaftsabkommen (EPAs, Economic Partnership Agreements) und Freihandelsabkommen mit dem Süden; das Verhindern von Kürzungen bei den Staatsausgaben, mit denen die höheren öffentlichen Schulden infolge der Krise beglichen werden sollen; Unterstützung der Kämpfe gegen die Krise; ein Verbot des Derivate-Handels und von Leerverkäufen sowie das Schließen der Steueroasen; ein Verbot der Spekulation mit Nahrungsmitteln und Energie; ein Zahlungsaufschub für die Schulden des Südens; die Wiedereroberung des Gemeingutes wie der Fabriken, des Bodens und der Öffentlichkeit, sowie die Beteiligung an politischen Aktionen; das Ende der Kriege und eine weltweite Abrüstung.

Neue globale Solidarität

Die neue globale Solidarität basiert auf den Kämpfen der Opfer des herrschenden Wirt-schaftssystems, der Länder des Südens als Ziele imperialistischer Politik sowie der subalternen Klassen des Nordens wie des Südens, die entweder ausgebeutet oder verwundbar gemacht werden. Sie schließt die Kooperation zwischen den großen Regionen der Welt ein, die sich gegenseitig ergänzen sollten. Die neue globale Solidarität erfordert die Achtung und den Schutz des Planeten und eines Dialogs zwischen den Kulturen. Sie bedeutet die Verwirklichung des allgemeinen Wohls der Menschheit. Nur globale Solidarität kann der Menschheit eine Hoffnung für die Zukunft geben. Wir haben die Massen und wir haben die Ideen. Sie haben die Macht – noch. Lasst sie uns erobern!

Unterzeichner_innen

ABIOLA, Hafsat (Nigeria); ALTVATER, Elmar (Germany); AMIN, Samir (Senegal); BAWTREE, Victoria (France); BEAUDET, Pierre (Canada); BELLO, Walden (Philippines); BRENNAN, Brid (Netherlands); BRIE, Michael (Germany); CANDEIAS, Mario (Germany); CANEPA, Eric (Italy); CASSEN, Bernard (France); CATALINOTTO, John (USA); CHACHRA, Sandeep (India); COX, Jennifer (USA); DAIBER, Brigit (Germany/Belgium); DIERCKXSENS, Wim (Honduras/Costa Rica); DRISSI CHALBI, Hassania (Tunesia); ESKELINEN, Teppo (Finland); FOUNOU, Bernard (Cameron/Senegal); GAUTHIER, Elisabeth (France); GEORGE, Susan (France) GILLS, Barry K (UK); HABASHI Mamdouh (Egypt); HAGEN, Mark (Germany); HEINE, Henning (Germany); HOUTART, François (Belgium); KEET, Dot (South Africa); KULKE, Roland (Belgium/Germany); LANDER, Edgardo, (Venezuela); LAU Kin Chi (Hong Kong); MASSIAH, Gustave (France); MENON, Meena (India); MERKUSHEV, Vitaly (Russia); MOYO, Samson (Zimbabwe); MURTHY, P.K. (India); NAKATANI, Paulo (Brasil); OSMANOVIC, Armin (Germany); PÁEZ, Pedro (Ecuador); RILLING, Rainer (Germany); ROCHAT, Florian (Switzerland); SCHOLZ, Helmut (Germany); VERVEST, Pietje (Netherlands); WACHTEL, Howard (USA); WEN Tiejun (China); YAKUSHIK, Valentin (Ukraine)

Siehe auch:

The World Crisis and Beyond: Konferenzreader