Gemeinsam aufstehen

26.04.2016
Nina Léger

Am 31. März verteilten einige Demonstrant*innen während der Kundgebung gegen das El Khomri-Gesetz (französische Arbeitsrechtreform) Flyer. Der Titel lautete „Nuit Debout“, im Anklang an den französischen Autor La Boétie: „Die Tyrannen sind nur groß, weil wir uns beugen“ (Von der freiwilligen Knechtschaft [Discours de la servitude volontaire], 1547). Bei dem Flyer handelte sich um einen Aufruf, sich am gleichen Abend auf dem Place de la République zu versammeln, um sich auszutauschen und den Film Merci Patron von François Ruffin anzusehen. Die Parole lautete: heute Abend geht niemand nach Hause. Während der gesamten Kundgebung hatte es wie aus Eimern gegossen, alle waren bis auf die Knochen durchnässt, alles war klatschnass. Und auf dem Place de la République befanden sich mehrere Tausende Bürger*innen, die blieben.

Tausende Menschen entdecken ihre bürgliche Würde wieder

Zuerst waren alle erstaunt, dass man sich frei ausdrücken konnte, dass man zusammengekommen war, und so zahlreich – und, dass alle ihren Standpunkt äußerten. Diesen Moment kennen - im weitesten Sinne - alle Aktivist*innen, wo man sich von einer Menschenmenge bestärkt und als handelnder Mensch fühlt. Es sind nicht die Kommiliton*innen oder die Kolleg*innen, die sich in Gang setzen, sondern Menschen, die sich überhaupt nicht kennen, sich austauschen, Entscheidungen treffen und gemeinsam handeln. Ein Internetnutzer versuchte abzuschätzen, wie viele Menschen auf dem Platz der Republik vorbeikamen: laut seiner Schätzung waren es 10 000 Menschen pro Tag. Wenn bei dieser Zahl auch etwas Skepsis angebracht ist, so besteht doch kein Zweifel daran, dass jeden Tag mehrere Tausend Menschen bei Nuit Debout eine bürgerliche Würde wiederfinden.

Seitdem ist der Platz praktisch ständig besetzt. Dieser Platz, auf dem schon so viele Demonstrationszüge vorbeigezogen sind, erlebt die Geburt und das Wachstum einer neuen, sehr jungen Bewegung, in der sich aktive Parteimitglieder auf der Suche nach Erneuerung Seite an Seite von enttäuschten Bürger*innen, Nichtwähler*innen, Verteidiger*innen von ungültigen Stimmzetteln u. a. wiederfinden. Viele von ihnen entdecken hier zum ersten Mal das Umsichgreifen, die Vielfalt - und auch das Chaos - einer Volksbewegung.

Hier sind die Dinge anders

Und wieder andere entdecken es wieder. Überall trifft man organisierte Aktivist*innen: Autonome, von der Front de gauche (Linksfront), von der NPA (Neue Antikapitalistische Partei), Gewerkschafter*innen, in Verbänden organisierte Aktive usw. Die ersten Blicke sind distanziert, amüsiert. Diese Aktivist*innen haben das - in manchen Punkten gerechtfertigte - Gefühl, anderen voraus zu sein, eine Politik- und Organisationskultur zu besitzen, die in diese amüsanten, naiven Anfänge dieser Menschenmenge zu erahnen sind. Die meisten derjenigen, die dableiben, die sich mit den anderen zusammensetzen, die diskutieren, ändern jedoch schnell den Ton. In diesem Augenblick wird man sich klar, dass unser organisatorischer Vorsprung uns auch ziemlich davor bewahrt hat, Formfragen zu diskutieren. Wir sind an festgelegte Diskussionsformen gewöhnt, die sich an feststehende Regeln halten und eigentlich kaum hinterfragt werden. Hier ist es anders. Jeder redet, über alles, wiederholt sich, wagt sich auszudrücken und agiert. Wer ein wichtiges Thema hat, steht auf, schreibt den Namen des entsprechenden Ausschusses auf ein Blatt Papier, setzt sich auf den Platz und gleich beginnt der Gedankenaustausch: ein Ausschuss ist geboren. Gedicht-Ausschuss, Manifest-Ausschuss, Ausschuss für Wirtschaftspolitik: neue Ausschüsse werden ständig hinzugefügt, überleben oder werden eingestellt, produzieren Ergebnisse oder nicht. Und genau weil sie zu diesem Zeitpunkt keinem Zwang unterliegen, werden sie geschaffen und ziehen so einfach eine große Menge an.

Wo sind die Grenzen dieser Bewegung?

Doch hier liegt auch einer der Knotenpunkte der Aktionen auf dem Platz: Wo liegen die Grenzen dieser Bewegung? Und genauer gesagt: ist die Tatsache, dass die Bewegung heute weder strukturiert zu sein scheint, noch sich ein Ziel gesetzt hat, ein Hindernis, wie man es uns so oft vorwirft? Zwischen dem Verfassen einer Konstitution und dem Kampf gegen das Arbeitsrecht liegt ein großer Spagat und scheinbar ist nichts entschieden. Das gleiche gilt für die Schaffung von Ausschüssen oder die Organisation eines Events oder einer Aktion. Zu diesen bestimmten Themen werden viele Stimmen laut. Die Sorge, einer klassischen Bewegung im Stil von Parteien oder Gewerkschaften zu ähneln, wird durch den Willen gemildert, sich in größerem Rahmen mit denjenigen zusammenzuschließen, die kämpfen. Die Ablehnung der Politik, sofern sie überhaupt besteht, ist absolut nicht omnipräsent und scheint oft eher einer Einschüchterung gegenüber der Politik zu gleichen - wir machen bei diesem „Ding“ nicht mit, von dem wir so oft ausgeschlossen werden - und/oder einer semantischen Zweideutigkeit: denn alles was gesagt oder gemacht wird, ist höchst politisch – angefangen bei der Wiederbesetzung des öffentlichen Raums. Und doch kann man Meinungen hören, dass man eine Verfassung schreiben sollte, ohne der Politik zu „verfallen“.

Wunsch nach Horizontalität

Auf dem Platz scheint das Bedürfnis nach Struktur manchmal ein eigenständiges Ziel zu werden, eine Vorbedingung, bevor überhaupt der Zweck der Bewegung ermittelt wurde. Und tatsächlich haben viele von denen, die schon seit dem Anfang dabei sind, keine Lust mehr, sich damit zufrieden zu geben, immer wieder die gleichen Sachen von den vielen Menschen zu hören, die jeden Tag neu hinzukommen. Orientiert man sich aber an diesem Bedürfnis, werden die Gespräche manchmal angespannt und haben die Tendenz, sich auf eine ewige Debatte zwischen den Verfechter*innen einer vollständigen Horizontalität und den Befürworter*innen einer vereinbarten Strukturierung zu beschränken. Wenn diese Debatte manchmal auch lähmend sein kann - eine Diskussion kann z. B. nicht stattfinden, weil ihre Modalitäten nicht vereinbart wurden - ; so ist dies doch eine zentrale Frage (unter so vielen, unter all den Fragen). Von ihr hängt nämlich nicht nur die weitere Entwicklung der Bewegung ab, sondern auch ihre Ausarbeitung in diesem riesigen Labor der neu überdachten Demokratie mit einigen tausenden Wissenschaftler*innen.

Eine hundert Jahre alte Organisationskultur, wenn man an die Parteien und Gewerkschaften denkt, die aus der Arbeiterbewegung entstanden sind, kann von einer zehn Tage alten Bewegung viel lernen - und umgekehrt. Denn den Teilnehmern von Nuit Debout ist bewusst, dass alle von „wir“ sprechen und versuchen, gemeinsam voranzugehen. Denn wer kennt sowohl die Vorteile, aber auch die Nachteile unserer Strukturen besser als die organisierten Aktivist*innen? All die Punkte, die uns manchmal als belastend, einschüchternd, schwerfällig, komplex bekannt sind und die auf der politischen Ebene keine volle Einbeziehung der Aktivist*innen erlauben, all diese müssen angesichts dessen, was sich auf dem Place de la République abspielt, überdacht und in Frage gestellt werden. Das Verlangen nach Horizontalität – zweifellos ist dies eines der Worte, das am häufigsten fällt – die Möglichkeit, sich die politische Rede wieder anzueignen, denn man fühlt sich hier im Recht, das Wort zu ergreifen, sollte uns zu denken geben. Können unsere Staatsapparate diese Wünsche erfüllen? Entsprechen unsere Funktionsweisen dem Zeitalter multipler Kommunikations- und Entscheidungstools?

Das System der politischen Repräsentanz, nicht nur das Arbeitsrecht, wird verraten

Auf dem Platz gilt es, große Wünsche zu diskutieren und zu entscheiden. Man kann nicht sagen, dass diese Wünsche vollkommen neu sind, sie werden hier aber ausdrücklich bestätigt. Es ist deshalb keine Überraschung, dass Bürger*innen das Gefühl haben, am besten gar nicht repräsentiert zu werden, um im schlimmsten Fall von den Regierenden nicht verraten zu werden. Kein Wunder, wenn sich dieses Gefühl auf Tatsachen stützt, wie insbesondere auf die, dass es die Französinnen und Franzosen waren, die der Linken vor vier Jahren zum Sieg verholfen haben. Eine Klassenjustiz, die Politiker wie Balkany straffrei lässt und eine Familienmutter, die stiehlt, um ihre Kinder zu ernähren, einsperrt, dass Wirtschafts-, Politik- und Finanzkriminelle straflos davonkommen, dass geheime Absprachen in diesen Bereichen und die soziale Homogenität der Politklasse bekannt sind: all dies ist nicht die Tat von ein paar Individuen, sondern wird erst durch das System ermöglicht. Und dieses System basiert auf grausamer Weise auf sozialem Ausschluss. Logischerweise ist daher das gesamte politische Repräsentationssystem diskreditiert, nicht nur das Arbeitsrecht. Das Streben nach höchster Horizontalität findet breite Unterstützung und nimmt in den Diskussionen eine wesentliche Rolle ein.

Hier muss man betonen, dass sich dafür technisch nie eine bessere Möglichkeit bot. Die in diesen Fragen kompetenten Bürger*innen denken zur Zeit über die Entwicklung von digitalen Tools nach - von denen einige schon existieren - um die Diskussionen virtuell fortzuführen: https://chat.nuitdebout.fr/home; https://wiki.nuitdebout.fr/wiki/Accueil - auf dem Place de la République fanden bereits Diskussion in Bezug auf eine Verbindung zwischen diesen Diskussionsräumen statt. Auch auf diesem Gebiet wird uns Nuit Debout zweifellos sehr viel lehren.

Wie kann man einen demokratischen Raum eröffnen, in dem sich möglichst viele Menschen einbringen können

Wie kann man einen demokratischen Raum eröffnen, in dem sich möglichst viele Menschen einbringen können, in seinen konkreten Aufbau, in seine Ergebnisse, seine Entscheidungen: das ist die Frage, die auf der Tagesordnung steht. Man kann heute also davon ausgehen, dass die offene Frage, wie man mit den Strukturierungsproblemen umgeht, ein Hindernis darstellt. Aber abgesehen davon, dass dies nach nur 15 Tagen der Mobilisierung normal zu sein scheint, kann man diese Frage als vorrangig betrachten: der Inhalt der Diskussionen hängt davon ab, welche Rolle jede/r in ihnen einnehmen möchte; und dafür einen gemeinsamen Rahmen abzustecken ist die einzige Garantie, möglichst viele Menschen zu beteiligen. Wir müssen nicht nur lernen, einen Diskussionsmodus und eine horizontale Aktion zu schaffen und Tausende von Menschen zusammenzubringen, um gemeinsam darüber nachzudenken, sondern wir sind ebenfalls verpflichtet, uns zu beteiligen, weil dies unser Platz ist, weil dies genau die Ziele sind, für die wir uns politisch engagiert haben, weil wir gerade dafür kämpfen: dem Volk, zu dem wir übrigens gehören, das Wort wieder zu erteilen und die Macht zurückzugeben. Deshalb müssen wir das „wir“ verwenden, wenn es um versammelte Bürger*innen geht. Ohne dieses innovative und vielfältige „wir“ im Plural können wir die Welt nicht neu erfinden.

Dieser Artikel erschien am 20. April bei Transform! und liegt dort auch auf Französisch vor.