Jenseits von Entwicklung. Imperativ überwinden und Alternativen eröffnen

23.06.2016
Ulrich Brand
Bild: Roșia Montană, Cristian Bortes / Flickr / CC BY 2.0

Angesichts der extrem ungleichen Dynamik des weltweiten Kapitalismus und der ständigen Krisen in vielen Gegenden der Welt lud das Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einer ersten Arbeitssitzung ein, um den internationalen Austausch von Erfahrungen zu globalen und lokalen Problemen sowie über Wege des Widerstands und Alternativen zu fördern.

Drei Tage lang diskutierten politische Aktivist*innen und kritische Wissenschaftler*innen im Januar 2016 unter dem Motto „Gegen den Entwicklungsimperativ“ (Initiatoren der Konferenz waren Ashish Kothari, Kalpavriksh, Indien, und Ulrich Brand, Universität Wien). Ziel der Veranstaltung war es, über mögliche Wege zur Überwindung des so mächtigen und in vieler Hinsicht ausgrenzenden kapitalistischen Entwicklungsimperativs zu diskutieren. Dieser Imperativ ist sowohl produktiv als auch destruktiv, schafft für viele Menschen materiellen Wohlstand, jedoch mit enormen sozioökonomischen, politischen und ökologischen Kosten. Dabei schließt er viele andere aus und zerstört ihre Lebensgrundlage. „Entwicklung“ und „Wirtschaftswachstum“ gehen immer noch Hand in Hand und ihr gemeinsamer Nenner ist die Annahme, das kapitalistische Kräftespiel könne als „Patentrezept“ die meisten Probleme lösen, in Zeiten der ökologischen Krise in Form einer angeblich „grünen“ Entwicklung und eines „grünen“ Wachstums.

Die Globale Arbeitsgruppe „Jenseits von Entwicklung“ stellt diese Annahmen und die daraus entstehenden Praktiken radikal in Frage. Sie nahm im Januar mit 23 Teilnehmer*innen aus 16 Ländern ihre Arbeit auf, wobei die internationalen Büros der Stiftung stark vertreten waren. Sie möchte den Boden für eine solide länderübergreifende Zusammenarbeit bereiten, vor allem durch den Austausch von Erfahrungen, der es ermöglicht, eigene Verfahren mit anderen zu vergleichen und die Kräfte zu bündeln. Dabei wollte die Arbeitsgruppe ausdrücklich nicht gleich zu Beginn gemeinsame Strategien entwickeln, sondern konzentrierte sich in ihrer ersten Sitzung darauf, wechselseitiges Verständnis, Vertrauen und den Wunsch zu einer langfristigen Zusammenarbeit aufzubauen – ein notwendiger und inspirierender Prozess.

Außerdem waren sich die Mitglieder der Gruppe bewusst, dass sie keineswegs ihren jeweiligen Kontinent „repräsentieren“. Das Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung hatte sie eingeladen, weil sie der Stiftung politisch nahe stehen, Expert*innen in bestimmten Fachbereichen sind und über Erfahrung in kooperativen Arbeitsverfahren verfügen, mit denen sie andere inspirieren können. Die Stärke der Arbeitsgruppe liegt jedoch in ihrer Vielfalt und dem Engagement ihrer Mitglieder, die sich für radikale emanzipatorische Veränderungsprozesse in ihren Ländern, Regionen und der ganzen Welt einsetzen, also für einen umfassenden sozialen und ökologischen Wandel. Darüber hinaus hat die Rosa-Luxemburg-Stiftung bereits regionale Gruppen in Lateinamerika und Südostasien mit einigen personellen Überschneidungen gegründet. Die Globale Arbeitsgruppe wird eng mit diesen Gruppen und anderen Bewegungen zusammenarbeiten.

Die Diskussionen in Brüssel waren um mehrere Fragen und Achsen angesiedelt:

• Was möchten die Mitglieder übereinander lernen und zu welchen Themen sollen Erfahrungen aus unterschiedlichen Regionen ausgetauscht werden?
• Was lässt sich aus bestehenden Kooperationsprojekten lernen? Was sind die Schlüsselfaktoren für eine gelungene Zusammenarbeit?
• Welche Vereinbarungen und Elemente benötigt das Arbeitsprogramm einer globalen Arbeitsgruppe, damit sie die Arbeit, die bereits anderswo geleistet wurde, nicht wiederholt?

Diese drei Tage haben gezeigt, dass ein derartiger Austausch unglaublich fruchtbar sein kann und ein großes analytisches und politisches Potenzial in sich trägt. Die Gruppenmitglieder aus Afrika und Asien beispielsweise bekundeten großes Interesse an den lateinamerikanischen Diskussionen über Extraktivismus und Raubbau sowie mögliche Alternativen. Außerdem wurde deutlich, dass jedes Gespräch über Alternativen sich des kolonialen Erbes bewusst sein muss, das – auch bei emanzipatorischen Kräften – weiterhin vorhanden ist. Die Erfassung wichtiger konkreter Alternativen und Konflikte erfolgt an anderer Stelle, siehe z. B. EJOLT; die Arbeitsgruppe kann diese jedoch im Licht der Frage neu interpretieren, wie es gelingen kann, den globalen Entwicklungs- und Wachstumsimperativ zu überwinden und alternative Modelle zu entwickeln und fördern.

Es wurde deutlich, dass individuelle Erfahrungen in den jeweiligen Regionen und Ländern dringend reflektiert werden müssen und diese Reflexion von den Erfahrungen in anderen Ländern profitieren kann. Dazu gehören z. B. die Beziehung zwischen Staat und politischen Parteien und Bewegungen, die Rolle privater Kooperationsprojekte, wichtige Konflikte und Diskurse über Alternativen oder die Bedeutung von Demokratie und Sozialismus.

Ein übergreifendes Thema, zu dem alle Mitglieder mehr erfahren wollten, war die Rolle der EU in einzelnen Regionen und Chinas Rolle insbesondere in Afrika und Lateinamerika. Eine andere Frage lautete, wo und ob die Unterscheidung einer politischen „Linken“ und „Rechten“ noch hilfreich ist und wie die Erfahrungen sozialistischer Staaten, Parteien, Gewerkschaften und Bewegungen besser genutzt werden können. Die Gruppe kam dabei unter anderem zu der wichtigen Erkenntnis, dass trotz der Fokussierung vieler lateinamerikanischer Diskurse auf Gemeinsamkeiten generelle Aussagen über „Afrika“, „Asien“ oder „Europa“ wenig sinnvoll sind.

Ein Diskussionsstrang drehte sich um die Rolle von Idealen, Utopien und „Zukunftsszenarien“ für einen radikalen Wandel. Liberale und konservative Kräfte veröffentlichen laufend Studien und „Imageberichte“ über Zukunftsperspektiven, d. h. darüber, wie die Welt im Jahr 2030 oder 2050 aussehen könnte. Auf diesem Wege versuchen sie, die Debatte darüber zu beeinflussen, was wir tun müssen, um bestimmte Szenarien zu verwirklichen (z. B. eine emissionsfreie Wirtschaft) und andere, wie einen beschleunigten Klimawandel, zu vermeiden. Gibt es emanzipatorische Alternativen zu diesen dynamischen und wirkmächtigen Prozessen der „Zukunftsgestaltung“?

Die Produktivität einer derartigen Gruppe liegt natürlich in ihrer Fähigkeit zur globalen Reflexion, dies ist jedoch auch eine Gefahr, wenn die Unterschiede der zugrunde liegenden Diskurse und Erfahrungen vernachlässigt werden. Die Arbeitsgruppe konnte mit dieser Spannung relativ gut umgehen, sie muss aber ständig mit reflektiert werden.

Das gleiche gilt für feministische Perspektiven auf aktuelle globale Entwicklungen und Alternativen, die in der ersten Sitzung äußert präsent waren und auch künftig eine zentrale Stellung einnehmen sollten. Nicht zufällig entdeckte die Arbeitsgruppe, dass jede Form von emanzipatorischer Politik auch als Beitrag zu einer gerechten und ökologisch nachhaltigen Form der sozialökologischen Reproduktion gelesen werden kann. Eine solche Reproduktion muss auch Prozesse berücksichtigen, die über formale Markt- und Lohn- bzw. Arbeitsverhältnisse hinausgehen, und den Entwicklungs- und Wachstumsimperativ in Frage stellen, der heute die weltweite sozialökologische Reproduktion dominiert.

Begriffe wie „(Neo-)Extraktivismus“ oder „imperiale Lebenswelt“ können uns helfen, die globale und extrem ungleiche Funktionsweise des Kapitalismus zu verstehen. Konzepte wie „gutes Leben für alle“ (buen vivir, ubuntu, swaraj) oder „sozialökologischer Wandel“ können sich als interessante Perspektiven für alternative Modelle erweisen. Allerdings zögerte die Arbeitsgruppe, Forderungen zu verallgemeinern und lies diese Frage daher offen.

Wie Erfahrungen aus anderen Projekten gezeigt haben, ist es zum Aufbau einer solchen Arbeitsgruppe notwendig, Vertrauen aufzubauen, Vielfalt zuzulassen und Unterschiede anzuerkennen, gleichzeitig jedoch auch gemeinsame politische Interessen zu identifizieren. Derartige Gruppen brauchen einen transparenten Informationsaustausch, nicht hierarchische Lernprozesse sowie neue Methoden, wobei die Mitglieder auch nicht mit Aufgaben überladen werden dürfen, weil sie bereits in vielen anderen Projekten involviert sind. Ebenso wichtig sind eine gewisse Kontinuität und Infrastruktur. Solche Arbeitsgruppen funktionieren, wenn alle sich respektiert fühlen und einen politischen und persönlichen Gewinn erleben.

Am Ende der dreitägigen Sitzung einigte sich die Gruppe darauf, ihre Arbeit fortzusetzen und zu vertiefen. Zu mehreren Themen wurden Untergruppen gebildet und es wurde ein vertiefter Austausch zwischen afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Akteur*innen vereinbart; so ist als konkreter Schritt beispielsweise der Besuch einer chinesischen Delegation in Lateinamerika geplant. Ziele des Besuchs sind insbesondere ein Austausch kritischer Diskurse über den Entwicklungsimperativ auf globaler Ebene, die Vermittlung von realen politischen Erfahrungen in einzelnen Regionen mit dem Entwicklungsimperativ und Beiträge zur Überwindung regionaler, aber auch weltweiter Hindernisse für alternative Modelle. Dank des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung verfügt die Arbeitsgruppe über eine hervorragende Infrastruktur für dieses wichtige Vorhaben und wird voraussichtlich Anfang 2017 erneut zusammentreten.

Ulrich Brand, Universität Wien, Institut für Politikwissenschaft