Die Europäische Sozialdemokratie: Gegnerin oder potentielle Partnerin?

12.05.2017
Angelina Giannopoulou

Ein zweitägiger Workshop im März in Madrid zielte darauf ab, den aktuellen Zustand der europäischen Sozialdemokratie durch die konkrete Analyse der europäischen sozialdemokratischen Parteien in Spanien, Portugal, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Österreich und Belgien zu beleuchten.

Diese Veranstaltung folgte auf einen Workshop, der vor einigen Monaten in Helsinki unter dem Titel "Analyse der europäischen Sozialdemokratie aus Sicht der Linken" (Konferenzbericht auf Englisch) abgehalten wurde und im Zuge dessen die sozialdemokratischen Parteien Italiens, Zentral-/Osteuropas, Griechenlands und Großbritanniens vorgestellt worden waren.

Der Workshop war gleichzeitig der Versuch, die heutige Beziehung zwischen der Sozialdemokratie und der radikalen Linken sowie die europäische Strategie beider politischer Kräfte zu analysieren.

Den Abschluss bildete eine öffentlichen Veranstaltung unter dem Titel "A left strategy in Europe: a road full of thorns", die gemeinsam von transform! europe, der Rosa-Luxemburg-Siftung, Büro Brüssel und der Fundación por la Europa de los Ciudadanos (FEC) organisiert wurde. Marga Ferré, Präsidentin der FEC und Vorstandsmitglied von transform! europe, moderierte die Diskussion zwischen Alberto Garzón, dem Koordinator der Izquierda Unida und Parlamentsabgeordneten von Unidos Podemos, Juan Carlos Monedero, Professor und Gründungsmitglied von Podemos, Mariana Mortágua, Abgeordnete und Vizepräsidentin der Parlamentsfraktion des Bloco de Esquerda (Linksblock), Beppe Caccia, Politikwissenschafter und Mitglied des EuroNomade-Kollektivs, sowie Catherine Samary, Ökonomin und Mitglied von Attac Frankreich. Während etwa 200 Menschen an der öffentlichen Veranstaltung teilnahmen, wohnten ihr etwa 2000 per Livestream bei.

Nach einer Eröffnungssitzung der Veranstalter*innen, die die Hauptachsen der Diskussionen vorgab, wurden im Zuge der ersten Podiumsdiskussion die spanische und portugiesische Sozialdemokratie präsentiert. José Gusmão, Ökonom und Berater des Bloco de Esquerda im Europaparlament, umriss die wirtschaftliche und politische Landschaft Portugals vor dem Bankenrettungsprogramm. Das Land hatte seit seinem EU-Beitritt nie ein Wachstum von über 2 Prozent erlebt; bis 2013 war Portugal durchgehend in einer tiefen Rezession gesteckt. 2013 führten große Demonstrationen – wenn auch unterschiedlichster Art – zur Bildung einer neuen politischen Mehrheit. Nach den Parlamentswahlen gelang es der Sozialistischen Partei (PS) 2015, eine Minderheitsregierung zu bilden. Diese schrieb sich die Abkehr von der Austeritätspolitik auf ihre Fahnen und gewann die Unterstützung des Linksblocks, der Kommunistischen Partei und der Grünen. Die Konservativen versuchten diese Regierung als Geringonça ("wackeliges Gerüst") zu verhöhnen und sagten ihr voraus, dass "sie nie dazu imstande sein wird, einen Haushalt zu beschließen" und "wenn doch, bricht die Wirtschaft zusammen". Diese Regierung setzte bisher jedoch wichtige Schritte zur Verbesserung der Lebensumstände der portugiesischen Bevölkerung durch. Gleichzeitig veränderten sich auch die Machtverhältnisse. Die portugiesische PS hatte nie einen großen Einfluss auf die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung, da sie nicht Teil einer größeren sozialdemokratischen Tradition ist. Innerhalb der Partei gibt es eine traditionelle sozialdemokratische Minderheit, die hauptsächlich von jungen Menschen vertreten wird, die besondere Unterstützung durch die Parteibasis erhalten, sowie die Wähler*innenbasis. Gleichzeitig hat sich die Einstellung zur "verschwendeten Stimme" verändert. Die Menschen wissen heute, dass eine Stimme für eine radikale Linkspartei eine sinnvolle Stimme ist, denn sie führt zu progressiven Koalitionen und parlamentarischer Kontrolle. Da diese Regierung die Forderungen der europäischen Institutionen oft nur eingeschränkt kontern kann, hat der Linksblock die Möglichkeit, "Nein" zu sagen und der Regierung seine Unterstützung entziehen, wenn die Partei denkt, dass sie nicht für eine bestimmte unpopuläre Maßnahme stimmen kann.

Armando Fernández Steinko, Professor an der Universität Complutense in Madrid, präsentierte die sozialdemokratische Partei Spaniens aus einer historisch-soziologischen Perspektive. Die PSOE war als solidester Verbündeter des spanischen Königshauses schon seit jeher eine moderate politische Kraft und eine kontinuierlich existierende Institution. Mit den Jahren gerieten die linksgerichteten Strömungen der Partei ins Hintertreffen und wurden strukturell isoliert. Die PSOE entwickelte nie eine Strategie zum Umgang mit den Autonomiebestrebungen Kataloniens oder des Baskenlandes, sondern bildete bloß weichgespülte Koalitionen mit den baskischen oder katalanischen Nationalist*innen. Zwischen 2008 und 2010, als die Krise ihren Ausgang nahm und der öffentlich finanzierte Wohlfahrtsstaat abgebaut wurde, erlebte das sozialliberale Projekt der PSOE einen Niedergang. Gleichzeitig werden die nationalistischen Bewegungen in Katalonien radikalisiert und die Sozialistische Partei Kataloniens zerbricht. Die katalanischen Sozialist*innen sind heute schwächer als je zuvor. In diesem Zusammenhang wurde Podemos zur hauptsächlichen Alternative links der PSOE. Die sozialistische Strömung innerhalb der PSOE war enttäuscht, nachdem die Partei ihre Unterstützung von Mariano Rajoys Minderheitsregierung angekündigt hatte, und sah in Unidos Podemos eine Möglichkeit zu ihrer Vertretung. Armando Steinko kam schließlich zur Schlussfolgerung, Spanien brauche eine neue „Mosaik“-Linke braucht, die das Potential für eine Unterstützung jenseits der 20–22 Prozent hat.

Der Fall Frankreichs wurde von Roger Martelli, Historiker und Mitarbeiter von Espaces Marx und Fondation Gabriel Péri, präsentiert. Er begann seinen Beitrag damit, dass die Beteiligung an sozialistischen Regierungen in Frankreich früher ein massives Scheitern für die radikale Linke bedeutet hatte. Im Zuge der Präsidentschaftswahlen 2012 entschloss sich François Hollande dazu, der Ambivalenz im Herzen der französischen PS ein Ende zu setzen und sich der vorherrschenden Strömung der europäischen Sozialdemokratie hinzugeben, nämlich jener von Tony Blair, Gerhard Schröder und in jüngerer Vergangenheit auch Matteo Renzi. 2014, nach katastrophalen Kommunalwahlergebnissen, erzwang er einen Wandel, indem er Jean-Marc Avrault durch Manuel Valls als Premierminister ersetzte – mit Unterstützung von Teilen der Linken, einschließlich Arnaud Montebourg und Benoît Hamon. Die Politik, die folgte, destabilisierte die Linke, radikalisierte die Rechte und ermöglichte dem Front National einen massiven Durchbruch. Hamons Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl löste nicht das strukturelle Problem der PS. Hamon musste zu seiner Rechten die Unterstützer*innen von Emmanuel Macron ansprechen und zu seiner Linken die jene von Jean-Luc Mélenchon, der für seinen Wahlkampf eine relativ breite Plattform geschaffen hatte, die von sehr unterschiedlichen Gruppen unterstützt wurde.

Die politischen Entwicklungen in der SPD wurden von Cornelia Hildebrandt (Rosa-Luxemburg-Stiftung, Vorstandsmitglied von transform! europe) dargelegt. Sie unterstrich die wichtige Rolle der SPD in der europäischen Politik. Obwohl die SPD auch im Europaparlament eine wichtige Akteurin darstellt, demonstrierte die Partei einen eklatanten Mangel an Strategie in Bezug auf die Krise der europäischen Integration. Die SPD hat seit Jahren Probleme mit ihrer Identität. Besonders nach Schröders "Agenda 2010" büßte die Partei nicht nur ihr traditionelles Naheverhältnis zu den Menschen ein, sondern musste auch einen laufenden Stimmenverlust hinnehmen. Die Partei erreicht bei Wahlen üblicherweise etwa 20–25 Prozent der Stimmen, aber dies scheint nicht so zu bleiben. Seit Martin Schulz seine Kandidatur als Kanzler bei der diesjährigen Bundestagswahl bekannt gegeben hat, klettern die Zustimmungsraten zur SPD in Umfragen auf 33 Prozent. Mit Schulz' Kandidatur versucht sich die Partei ein neues Profil zu geben, das näher an den sozialen Fragen angesiedelt ist und somit näher an den gesellschaftlichen Klassen, die die Sozialdemokratie immer vertreten hat. Die SPD kann bei den kommenden Wahlen nur dann erfolgreich sein, wenn sie die soziale Frage ins Zentrum der Diskussion rückt. Wenn ihr dies nun gelingt, welche Rolle wird dann der radikalen Linken zukommen? Die SPD wird mit Sicherheit einen Koalitionspartner brauchen, um eine Regierung zu bilden. Kann die LINKE eine solche Koalition unterstützen und wenn ja, wissen wir, welchen Einfluss dies auf die Strategie der radikalen Linken ganz allgemein haben wird?

Der erste Tag des Workshops endete mit einer Grundsatzrede von Andrés Gil, Chefredakteur des Politikressorts von eldiario.es. Er umriss die politische Situation Spaniens und legte ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklungen der linken Parteien Izquierda Unida und Podemos, sowie deren Allianz Unidos Podemos. Er sprach insbesondere auch darüber, dass die spanische Linke kein spezielles Interesse für die europäische Politik und die Frage der europäischen Integration zeigt und geht davon aus, dass diese Fragen für die spanische Gesellschaft einfach kein wichtiges Anliegen darstellen.

Den zweiten Tag eröffnete Walter Baier, politischer Koordinator von transform! europe. Er sprach über die aktuelle Lage Europas und brachte eine politische Analyse des kürzlich von Juncker herausgegebenen Weißbuchs zur Zukunft der Europäischen Union vor. Walter Baier beschrieb die aktuelle europäische Strategie als autoritären Föderalismus, der die militärische Kooperation in Richtung der Schaffung einer Militärunion verstärken soll. Im Weißbuch äußere sich die Präferenz eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten und des "more of the same". Das Buch stelle eine ideologische Übung dar, die den politischen Block stärken soll, der Europa seit Jahrzehnten regiert. Da im Weißbuch jegliche Referenz zum Thema Demokratie fehlt, muss die Linke eine Strategie konkreter Schritte entwickeln, mit der unsere Vision eines Europas von und für die Menschen erreicht werden kann. Wir müssen über das Konzept der regionalen Kooperation sprechen, das es z.B. in den Staaten des europäischen Südens gibt. Regionale Kooperation ist schließlich nichts Neues, wenn wir etwa an die Viségrad-Gruppe denken. Baier sprach außerdem darüber, wie wichtig es sei, unsere Parteien zu analysieren – besonders, wenn wir die großen Transformationen innerhalb der Linken nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus reflektieren. Die Parteien seien nicht nur Apparate, sondern Organe, die politische Projekte mit der Zivilgesellschaft verbinden. Walter Baier unterstrich auch die Frage der Souveränität und ihre Bedeutung für ein radikal linkes Projekt, das gleichzeitig internationalistisch und solidarisch sein müsse. Seine Schlussfolgerungen umfassten Gedanken zu Freiheit und ihre Beziehung zur sozialen Frage.

Die Partei der Arbeit (PvdA) in den Niederlanden wurde von Amieke Bouma vorgestellt, Lehrende an der Abteilung für Europäische Studien an der Universität Amsterdam. Die Entwicklungen in der PvdA sollten auch im Rahmen des Mehrparteiensystems mit einer Vielzahl an Parteien analysiert werden, von denen keine die Chance hat, allein an die Macht zu kommen, sondern zur Koalitionsbildung gezwungen ist. Die Strategie der PvdA sollte außerdem im Hinblick auf die Sozialistische Partei untersucht werden, die bei der letzten niederländischen Wahl 9,1 Prozent der Stimmen erreichte, während es die PvdA bloß auf 5,7 Prozent schaffte. Als die SP 2012 eine große Wahlniederlage einstecken musste (und von 16,6 auf 9,7 Prozent abstürzte), wurde die PvdA die Regierungspartei der Linken. Die Entscheidung der Partei, eine Koalition mit der konservativen VVD (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) zu bilden, wurde hauptsächlich mit dem Ansinnen getroffen, eine Antwort auf die Eurokrise zu finden. Diese Regierung brachte einen Abbau des Sozialstaates mit sich, was bei den Wähler*innen Enttäuschung auslöste; die PvdA war traditionell auch die Partei, die Menschen mit Migrationshintergrund ansprach. Die PvdA war ganz auf Linie mit der Austeritätsdoktrin und forderte eine größere Haushaltsdisziplin. Jeroen Dijsselbloem als niederländischer Finanzminister repräsentierte diese "Neoliberalisierung" der Partei. Der Rechtsruck wird insbesondere durch die Tatsache offensichtlich, dass alle linken Parteien zusammengerechnet nicht einmal 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinen.

Marc Johan Botenga, Sprecher für europäische Angelegenheiten der Arbeiter_innenpartei Belgiens (PtB-PvdA) präsentierte die Belgischen Sozialistischen Parteien (SP.a und PS), die das Land 25 Jahre lang ununterbrochen regiert haben. Während es eine starke sozialistische Gewerkschaft gibt, ist die christdemokratische Gewerkschaft die größte und repräsentiert eine starke Strömung in der Arbeiter*innenbewegung. Ein wichtiger Punkt von Botengas Rede war es, dass die Bildung der rechten Bundesregierung nach den Wahlen 2014 ein Revival der Sozialistischen Partei nach sich ziehen hätte müssen. Trotz ihres großen Einflusses etwa auf den Staatsapparat, lokale Behörden und die sozialdemokratischen Gewerkschaften hat die PS Schwierigkeiten dabei, eine glaubwürdige Alternative zu Michels Regierung darzustellen. Das Hauptargument ist hier, dass dies der PS ja vormals auch gelungen war. Belgien ist der spezielle Fall eines Bundesstaats mit zwei Sprachgemeinschaften. In diesem Rahmen ist es der Sozialistischen Partei gelungen, einen eindrucksvollen Apparat zu schaffen. Zusätzlich zu den diversen Vorzeichen ihres Niedergangs hat die Partei mit einer schweren Krise zu kämpfen, die von Skandalen herrührt, in die viele Parteimitglieder verwickelt sind. Die Frage nach der Kooperation zwischen der linken PtB und der Sozialistischen Partei ist eine schwierige und umfasst natürlich auch die europäische Dimension und die Antworten darauf. Eine Kooperation der Linken mit anderen Kräften sollte auf eine Stärkung der Kräfte für den sozialen Wandel und eine breite Mobilisierung abzielen. Die Sozialistische Partei scheint jedoch lieber gesellschaftliche Kämpfe zu untergraben, wenn dies der Maximierung von Stimmen dient.

Die letzte Fallstudie wurde von Tamara Ehs präsentiert, Lehrende am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien. Tamara Ehs referierte über die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ). Ein Teil ihrer Ausführungen konzentrierte sich auf das Verhältnis zwischen SPÖ und der rechtsextremen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), die aktuell das Oppositionsmonopol innehat, da es in Österreich keine relevante linke Partei gibt. Das Projekt der SPÖ lässt sich als Neoliberalismus "mit sozialdemokratischem Gesicht" bezeichnen, wie Kanzler Christian Kerns "Plan A" veranschaulicht. Auch mit der historischen Chance, die sich 2008 mit der Krise auftat, schaffte es die SPÖ nicht, mit neuen Lösungen ihrer veränderten Wähler*innenschaft zu begegnen. Die Partei hat deutlich ihre Bindung etwa zur Arbeiter*innenklasse und dem Prekariat eingebüßt. Bei den letzten Parlamentswahlen 2013 fuhr sie ihr historisch schlechtestes Ergebnis ein und erreichte bloß 26,8 Prozent. Die parteiinterne Demokratie ist von größter Bedeutung für die Parteistrategie und die gesellschaftlichen Allianzen. Die Partei funktioniert auf sehr autoritäre Art und Weise und die Mitglieder können nicht alles kontrollieren. Für die Partei scheint die Regierungsbeteiligung die einzige Möglichkeit zu sein, Reformpolitik zu machen. Daher nehmen die Interessen der Menschen hinter dem bedingungslosen Bestreben, Regierungspartei zu bleiben, nur den zweiten Platz ein. Als weiteren zentralen Punkt ihrer Präsentation nannte Ehs die Tatsache, dass die soziale Frage nur von der extremen Rechten wirklich angesprochen werden würde. Die SPÖ kehrte diesen Themen immer deutlicher den Rücken zu. Die Partei äußere sich auch dem Finanzsystem und der Globalisierung gegenüber immer weniger kritisch. Auch wenn die Linke in Österreich wiederaufgebaut werden kann, besteht kein wie immer gearteter Spielraum für eine Zusammenarbeit zwischen radikaler Linker und Sozialdemokratie.

Schlussbemerkungen zu den Diskussionen der beiden Workshoptage kamen von Haris Golemis, wissenschaftlicher Berater von transform! europe und Direktor des Nicos-Poulantzas-Instituts in Athen. Weitere Fragen und eine neue Diskussionsrunde folgten. Die Organisator*innen äußerten ihre Absicht, die schriftlichen Beiträge der Teilnehmer*innen der beiden Workshops in Helsinki und Madrid zu veröffentlichen.