Globale Arbeitsgruppe Beyond Development

Vom Aufhalten sozialökologischer Zerstörung zum Aufbau alternativer Welten: Unsere Strategien für sozialen Wandel neu denken

28.06.2017
Raphael Hoetmer

Vom 12. bis 19. Mai hielt die Globale Arbeitsgruppe Beyond Development des Brüsseler Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung ihr zweites Treffen im lateinamerikanischen Ecuador ab. Ziel war eine gemeinsame Analyse der Chancen, Herausforderungen und praktischen Strategien für die Schaffung multidimensionaler Alternativen zu unserer gegenwärtigen zivilisatorischen Krise, verursacht durch den Kapitalismus und die mit ihm einhergehende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Dynamik.

Das zweite Treffen dieser aus 30 engagierten Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Volksbildner*innen bestehenden Gruppe umfasste unter anderem eine öffentliche Tagung an der Universidad Andina Simón Bolívar in Quito sowie einen dreitägigen Workshop. Außerdem wurde eine Exkursion in die Gemeinde Nabón in Ecuadors südlicher Provinz Azuay unternommen, um das soziale Konzept des "guten Lebens" (Buen Vivir) kennenzulernen, das dort erfolgreich praktiziert wird. Der alternativen Lokalregierung von Nabón stehen seit vier Amtsperioden zwei Frauen der indigenen politischen Bewegung Pachakutik als Bürgermeisterinnen vor.

Als Anregung für ihre Debatten dienten der Gruppe außerdem fünf Fallbeispiele über die Schaffung multidimensionaler Alternativen in verschiedenen Regionen der Welt: die Selbstbestimmung der Lokalbevölkerung im indischen Mendha Lekha, der gemeinschaftliche Widerstand gegen Erdölförderung und die damit verbundene Kolonialisierung im Nigerdelta in Nigeria, der Aufbau einer neuen städtischen Selbstverwaltung im spanischen Barcelona, die Schaffung sozialer Alternativen in den Städten eines krisengeschüttelten Griechenlands und der Prozess der Bolivarischen Revolution – später auch als "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" bezeichnet – in Venezuela.

Historischer Moment einer zivilisatorischen Krise

Das Treffen fand in einem besonders kritischen historischen Kontext statt, an dem ganz klar abzulesen war, wie wichtig eine Debatte über multidimensionale Alternativen zur Bewältigung problematischer Aspekte wie Klassenzugehörigkeit, Geschlecht/Gender, ethnische Zugehörigkeit, Kolonialität, Staatsmacht und Nachhaltigkeit ist. Während die Menschheit ihre Zukunft durch Klimawandel und Umweltzerstörung bedroht sieht, greift der Extraktivismus weltweit immer stärker um sich; und eine imperialistische Lebensweise basierend auf grenzenlosem Konsumismus und Individualismus schlägt derweil nicht nur in unseren Eliten, sondern auch im weltweiten Mittelstand Wurzeln. Angesichts der weltweiten (Gegen-)Offensive einer Verbindung aus Rechtspopulismus, verschiedenen Strömungen des religiösen Konservatismus sowie aggressivem Kapitalismus wurde die globale Linke in die Defensive gedrängt, während soziale Bewegungen mit verschiedenen Formen staatlicher Repression sowie Kriminalisierung und Gewalt in neuen teilstaatlichen und teilprivatisierten Formaten konfrontiert sind.

Die Arbeitsgruppe war sich einig, dass diese Entwicklungen die Folgen einer zivilisatorischen Krise sind, herbeigeführt durch ein patriarchales, kolonialistisches und imperialistisches Kapitalismusmodell, das auf der Ausbeutung der Natur beruht, die wiederum durch den Entwicklungsimperativ weiter vorangetrieben wird. Es muss daher dringend ein tiefgreifender Wandel erfolgen. Doch unter Beschuss stehen genau die sozialen Bewegungen, die für Alternativen eintreten, und jene Lebensweisen, die anders sind bzw. in verschiedenen sozialen Gefügen als anders angesehen werden.

Aus Erfahrung lernen

Wir sollten die Lektionen der vergangenen Jahrzehnte nicht ignorieren, was soziale Mobilisierung angeht: Demokratische Auflehnung und die Schaffung von Verfassungsgewalten haben mehr als einmal den Status Quo ins Wanken gebracht, ganz besonders in Lateinamerika, Südeuropa, Westafrika und der arabischen Welt. Allerdings ging es in vielen Fällen hauptsächlich darum, die Kontrolle über den Staat auf nationaler Ebene zu erlangen, was letztlich dazu führte, dass es nach der Institutionalisierung und Regierungsübernahme dieser Bewegungen in den besten Fällen zu einem weniger spektakulären Wandel kam als erhofft, und in anderen Fällen sogar zu einem durchweg enttäuschenden Resultat.

In Lateinamerika haben diese Prozesse zu äußerst widersprüchlichen Ergebnissen geführt, insbesondere was den Umbau wirtschaftlicher Strukturen und Produktionsmodelle, die Beziehung mit autonomen indigenen Gemeinschaften sowie die Postulate der Geschlechtergerechtigkeit und Schaffung von Plurinationalität als Alternative zum monokulturellen Nationalstaat angeht. Auch wurde die Ausbeutung der Natur unter progressiven Regierungen sogar noch weiter vorangetrieben. Eine der Lektionen könnte also sein, dass die Politik, wie wir sie kennen, die von der Welt benötigte Transformation nicht herbeiführen kann. Gleichzeitig scheint auch die globale Linke mit ihren politischen Prägungen, Instrumenten und Wahrnehmungshorizonten den gegenwärtigen Herausforderungen nicht gewachsen zu sein – möglicherweise, weil sie als Reaktion auf den Kapitalismus des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden ist, der sich mittlerweile stark verändert hat.

Neue Strategien und Herausforderungen für die politische Linke

Der aktuelle Kontext stellt die politische Linke, was ihr Erbe angeht, vor ganz eigene Herausforderungen: Ihre Rolle in der emanzipatorischen Politik gilt als zunehmend ambivalent, da sie Schwierigkeiten hat, über eine produktivistische und wirtschaftszentrierte Politik hinauszudenken, die auf Staats- und Klassendenken ausgerichtet ist und sich oft selbst noch als avantgardistisch ansieht. Doch gleichzeitig ist die globale Linke nach wie vor der zentrale Referenzrahmen für Zusammenschlüsse und Aktionen gegen den Kapitalismus. Voraussetzung für eine multidimensionale Transformation scheint also eine Neugründung dieser politischen Linken zu sein.

Eine solche Neugründung muss zum einen dafür sorgen, dass linke Bewegungen ihre eigene pluralistische Geschichte wiedererlangen und sich auf ihr Vermächtnis jenseits der historisch als hegemonial eingestuften Strömungen besinnen. Und zum anderen müssen dabei kritische Dialoge, Lernprozesse und konstruktive Bündnisse mit indigenen, feministischen, der Gandhi- und anderen emanzipatorischen Bewegungen entstehen. Es scheint also notwendig, einen interkulturellen Dialog mit verschiedenen Grammatiken sozialer Transformation zu führen.

Der aktuelle historische Moment bringt verschiedene Temporalitäten der Transformation mit sich, denen man am besten mit unterschiedlichen und letztlich komplementären politischen Strategien begegnet. Mit Blick auf die nahe Zukunft besteht die Notwendigkeit, die rasanten ökologischen, politischen und gesellschaftlichen Prozesse der Zerstörung und Enteignung aufzuhalten. Daher werden starke soziale Widerstandsbewegungen auf allen Ebenen – lokal, regional, national, kontinental und global – benötigt sowie eine ganze Reihe unterschiedlicher Strategien, darunter auch frische Ansätze bezüglich des Staates. So sollten auch die Ideen der linken politischen Bewegungen und Parteien einbezogen werden, die anzweifeln, dass im Rahmen eines Staates die rechtlichen und institutionellen Bedingungen für Transformation überhaupt gegeben sind.

Strategien der präfigurativen Politik waren bisher immer dann am erfolgreichsten, wenn sie auf bestimmte Territorien beschränkt und großenteils unabhängig von nationalen staatlichen Einrichtungen waren – aber manchmal Lokalregierungen als Verbündete aufweisen konnten, die durch direktdemokratische Mechanismen zur Verantwortung gezogen werden, wie z. B. im ecuadorianischen Nabón und im Fall der städtischen Selbstverwaltung in Spanien. Die Nutzung der eigenen instituierenden Macht zum Erhalt bestehender bzw. zur Schaffung neuer Gemeingüter und die damit einhergehende Abkoppelung von der Logik des globalisierten kapitalistischen Weltmarkts wurde als eine Möglichkeit angesehen, um Demokratie und Selbstbestimmung zu stärken, eine gänzlich neue Beziehung zur Natur aufzubauen und Entpatriarchalisierung und Entkolonialisierung herbeizuführen.

Es wird sicher weiterer Diskussionen und Praxiserfahrung bedürfen, um herauszufinden, wie diese und andere Strategien gemeinsam eine radikale und multidimensionale Transformation herbeiführen können, die in wahrem kulturellen und politischen Wandel resultiert und ausbeuterischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praktiken einen Riegel vorschiebt.

Internationale Beziehungen neu gedacht

Zu guter Letzt – und im Geiste einer globalen Arbeitsgruppe – drehten sich die Debatten auch um die Notwendigkeit, die Konzepte und Traditionen der Solidarität und internationalistischen Beziehungen neu zu denken. In dieser Hinsicht wurde insbesondere dem Gedanken nachgegangen, die geldbezogene und paternalistische Logik von Hilfslieferungen hinter sich zu lassen und von dem Modell wegzukommen, die Überwindung bestimmter Nöte im Ausland gerade so lange zu unterstützen, bis eine neue unterstützenswerte Sache daherkommt. Die Alternative wäre hingegen, aktiv an der Veränderung des eigenen sozialpolitischen Kontextes zu arbeiten und dabei immer die Auswirkungen im Auge zu behalten, die dadurch anderswo auf der Welt herbeigeführt werden, sowie gegenseitige und horizontale zwischenmenschliche Beziehungen zu pflegen, um interkulturellen Dialog und erfahrungsbasierte Lernprozesse zu fördern.

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